Gladbeck. Das Kontaktverbot wegen des Coronavirus’ wirkt sich in der Jugend- und Behindertenhilfe Gladbeck drastisch aus. Experte Siggi Schmitz erzählt.
„Systemrelevant“ – Hand aufs Herz: Wer hat diese Vokabel vor der Verbreitung des Coronavirus’ schon in den Mund genommen? Mittlerweile wissen die meisten unter uns, welche Berufsgruppen mit dieser Bezeichnung gemeint sind: medizinisches Personal, Verkäuferinnen, Kassierer, Lkw-Fahrer, um nur einige zu nennen. Und eben auch: Beschäftigte in den stationären Kinder- und Jugendeinrichtungen. „Uns hat in diesen Tagen kaum jemand auf dem Schirm“, stellt Siggi Schmitz fest.
Gladbeck: „Wir leben wie in einer Familie mit den Kindern“
Er ist Geschäftsführer und pädagogischer Leiter der Gemeinnützigen Jugend- und Behindertenhilfe Gladbeck. Er sagt: „Wie Alten-, Kranken- und Pflegedienste halten auch wir die Fahne hoch.“ Und zwar 24 Stunden, sieben Tage die Woche. Homeoffice, das funktioniere in diesem Berufsfeld nicht.
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„Wir haben die Kinder tagein, tagaus um uns“, so Schmitz. Er betont: „Wir leben wie in einer Familie mit den Kindern.“ Abstand halten? Wie solle das umzusetzen sein? „Wir essen zum Beispiel zusammen, da geht ein Abstand von zwei Metern untereinander nicht.“ Außerdem: „Die Kinder fordern Emotionen ein!“ Gut 99 Prozent der Schützlinge stammen aus schwierigen sozialen Verhältnissen, etliche haben in ihren Familien „Gewalt unterschiedlicher Art und Vernachlässigung erfahren“.
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Und diese Gefühlswelt steht während der Beschränkungen durch die Corona-Krise bei den jungen Leuten Kopf. Geschwister, Eltern und andere Angehörige treffen? Nicht erlaubt! Mit Freunden etwas unternehmen? Gestrichen! Ausflüge und andere Unternehmungen? Fallen aus! Da sind Schmitz und Co. wie Prellböcke, auf die der geballte Frust, Ärger und Unverständnis stoßen.
„Wir sind zurzeit die Bösen, die den Kindern ihre Familien nicht gönnen“, erzählt der 59-Jährige. Oder die ihren Schützlingen den Spaß verderben. Dabei „versuchen wir, das Beste daraus zu machen“. Tischtennis, das Gemüsebeet im hauseigenen Garten pflegen, Gesellschaftsspiele – einige Möglichkeiten gebe es schon, um keinen Fuß in die Stadt setzen zu müssen. Schade, dass das Trampolin seinen Geist aufgegeben hat: „Da können die Kinder Aggressionen loswerden.“ Doch mal eben 200 Euro für ein neues Gerät, die sitzen nicht locker. Schmitz: „Die Kinder haben auch die ganz große Sorge, dass unsere Ferienfreizeit nach Ameland im Sommer ins Wasser fällt.“ Oder die Geburtstagsfeier zum zehnjährigen Bestehen der Einrichtung, die für den 14. August am Kotten Nie geplant ist.
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Als Ursache von wütenden Gefühlsausbrüchen erweist sich ein Punkt im Alltag immer wieder: Schulaufgaben. Schmitz: „Wir gucken, dass wir bis mittags damit durch sind, damit die Kinder später den Kopf frei haben.“ Doch das Thema Homeschooling ist nach Schilderungen des ausgebildeten Heimerziehers alles andere als ein Kinderspiel, eher ein Kampf. Die Mädchen und Jungen besuchen unterschiedliche Schulen, haben mitunter Förderbedarf.
Jugend- und Behindertenhilfe
Zum Team der Gemeinnützigen Jugend- und Behindertenhilfe Gladbeck GmbH gehören fünf Vollzeitkräfte und eine Jahrespraktikantin. Sie kümmern sich in zwei Wohngruppen um jeweils sieben junge Menschen zwischen acht und 20 Jahren.
Hinzu kommt die Betreuung von zwölf behinderten jungen Erwachsenen. „Sie haben an der Memeler Straße jeder ein eigenes Appartement“, sagt Siggi Schmitz. Diesen jungen Leuten im Alter von Anfang 20 bis 30 stehen aber auch Gemeinschaftsräume wie eine Küche und ein Fernsehzimmer zur Verfügung: „Wie in einer Wohngemeinschaft.“ Die Gemeinnützige Jugend- und Behindertenhilfe arbeitet an zwei Standorten: an der Friedenstraße und an der Memeler Straße.
Reine Lernfächer stehen auf dem Plan, darunter Deutsch, Mathematik, Sachkunde, Englisch. „Erschwert wird unsere Arbeit dadurch, dass wir haufenweise Aufgaben bekommen, auch mal 70 Seiten pro Woche“, berichtet der Gladbecker. Pro Gruppe bedeute das siebenmal Stress. Da bekommen die Betreuer auch schon mal zu hören: „Du hast ja keine Ahnung!“, „Du bist blöd!“ oder „Unser Lehrer macht das ganz anders!“. Der 59-Jährige hebt hervor: „Wir sind Erzieher! Keine Lehrer! Wir haben nicht jedes halbe Jahr eine aktuelle pädagogische Schulung!“
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Diese Schwierigkeiten treiben Schmitz und sein Team um. Mal ganz von der Sorge um die Ansteckungsgefahr durch das Coronavirus’ abgesehen. „Aber das verdrängen wir“, gesteht Schmitz. Ihm ist wichtig: „Wir erfüllen eine wertvolle Aufgabe, die uns die Stadt übertragen hat.“