Gladbeck. . Werner Fiedler hat im Jugendamt Gladbeck gearbeitet. Lügde nimmt er zum Anlass, grundsätzliche Kritik an den Strukturen der Jugendhilfe zu üben.
Auf einem Campingplatz in Lügde (Kreis Lippe) wurden seit 2008 mindestens 31 Kinder in mehr als 1000 Fällen Opfer sexuellen Missbrauchs. Polizei und Jugendbehörde sehen sich massiven Vorwürfen ausgesetzt.
Werner Fiedler, von 1990 bis 2017 Abteilungsleiter im Jugendamt Gladbeck, sagt: „Lügde kann in jeder Stadt passieren.“ Ein Gespräch über Struktur- und Qualitätsprobleme in der Jugendhilfe und über mögliche Lösungen.
Was geht in Ihnen vor, wenn Sie hören, was in Lügde passiert ist?
Ich empfinde Entsetzen über das Schicksal der Kinder. Aber so bitter sich das anhört: Was dort geschehen ist, überrascht mich nicht.
Warum nicht?
Die Jugendämter sind generell nicht gut aufgestellt. Es mangelt an nachhaltigen Kooperationen zwischen den Jugendämtern auf der einen sowie Polizei, Kindergärten und Schulen auf der anderen Seite. Um Themen wie sexuellem Missbrauch, Gewalt in der Familie oder Traumatisierung angemessen begegnen zu können, müssen die Jugendämter fachlich fit sein.
Es gibt in Deutschland gut 600 Jugendämter, ein Drittel davon, genau 186, allein in Nordrhein-Westfalen. Das kleinste ist für 19.500, das größte für eine Million Bürger zuständig. Wenn man sich die gesetzlichen Grundlagen im Kinder- und Jugendhilfegesetz, dem Sozialgesetzbuch 8 (SGB 8), ansieht, kann man sich vorstellen, dass kleine Jugendämter Schwierigkeiten haben, vom Personal und von der Ausbildung her die Vorgaben zu erfüllen.
Sind die Jugendämter überlastet?
Tatsache ist, dass die Jugendämter personell stark gewachsen sind, aber ebenso der Verwaltungsaufwand drastisch zugenommen hat.
Könnte Lügde auch im Kreis Recklinghausen passieren?
Der Fall Lügde kann überall passieren. Das grundsätzliche Problem ist nämlich die Strukturschwäche der Jugendämter. Jedes Amt macht, was es will. Und wichtige Bestandteile, die eine gute Qualität ausmachen, fehlen.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Nehmen wir etwa die Jugendhilfeplanung. Bei ihr geht es darum, Bedarfe und Missstände festzustellen und daraus langfristige Konzepte zur Verbesserung der Situation zu entwickeln. Dass das nicht immer funktioniert, zeigt ein Beispiel aus der Emscher-Region: 20 Prozent der Mädchen und Jungen leben hier in prekären Verhältnissen. Ihre Situation hat sich nicht verbessert, sondern in den letzten 25 Jahren kontinuierlich verschlechtert.
Für mangelnde Qualität spricht auch die Tatsache, dass nahezu 50 Prozent der Maßnahmen, die ein Jugendamt in Auftrag gibt – von der Familienhilfe bis zur Unterbringung in Pflegefamilien oder Heimen – nicht den beabsichtigten Erfolg haben und teilweise vorzeitig abgebrochen werden. Auch die inflationäre Entwicklung bei freien Trägern, die im Auftrag der Jugendämter tätig werden, ist ein Problem. Es gibt Städte, die mit einer dreistelligen Zahl an Organisationen zusammenarbeiten. Wie soll eine Stadt die Qualität dieser Vielzahl an Einrichtungen kontrollieren?
Wie sieht Ihre Problemlösung aus?
Was wir brauchen, ist ein Jugendamt nach bundesweit einheitlichen Standards. Wenn eine Familie von Bottrop nach Duisburg zieht, muss sie sich darauf verlassen können, dort auf dieselben Voraussetzungen zu treffen. Die Bewertungsmaßstäbe dürfen doch nicht vom Wohnort abhängig sein. Der Bürger hat ein Recht auf transparente, verlässliche und verständliche Strukturen.
Sollten Städte sich in der Jugendhilfe zusammenschließen?
Bei dem von mir vorgeschlagenen Standard-Jugendamt müsste auch definiert werden, wie groß eine Einheit sein soll, damit sie die Anforderungen erfüllen kann. 100.000 Einwohner ist nach meiner Auffassung die Mindestgröße.
Das würde bedeuten, dass auch im Kreis Recklinghausen einige der bisher zehn Jugendämter zusammengelegt werden müssten...
Vielleicht würde ja sogar ein einziges Jugendamt für den Kreis Sinn machen – mit Dependancen in verschiedenen Städten.
Was könnte die Lehre aus Lügde sein?
Wenn sich jedes Jugendamt fragt: Sind wir zukunftsfähig aufgestellt? Sind wir auf dem richtigen Weg? Dann hätte das Schreckliche noch etwas Positives.
>> ZUR PERSON
Werner Fiedler (67) ist gelernter Bankkaufmann. Nach dieser Ausbildung hat er Sozialarbeit an der Gesamthochschule Essen studiert.
In frühen Jahren engagierte sich Fiedler bereits ehrenamtlich in der Kinder- und Jugendarbeit. Später machte er diese zu seinem Beruf; zunächst in der Stadtverwaltung Bottrop, ab 1977 dann im Jugendamt der Stadt Gladbeck. 1990 wurde er dort Abteilungsleiter, 2017 schied er im Alter von 65 Jahren aus dem Dienst der Stadt aus.
Werner Fiedler, der mit seiner Ehefrau in Bottrop lebt, hat mitgewirkt an dem Buch „Kind im Brunnen – Wie Staat und Städte bei der Jugendhilfe versagen“, das Journalist Christoph Schurian für das Recherchezentrum Correctiv (Essen) verfasst hat.