Gelsenkirchen. .

Bilder von lautstarken Protesten, brutalen Übergriffen der Polizei, Schlägertrupps, die gegen Demonstranten eingesetzt werden, Beschwichtigungsreden von Vitali Klitschko flimmern nahezu jeden Abend in bundesdeutsche Wohnzimmer, wenn über die Lage in der Ukraine berichtet wird. Immer wird dabei der Ruf nach Sanktionen gegen die aktuelle Staatsführung, vorgezogene Präsidentenwahlen, die Öffnung nach dem Westen laut.

Europäische Union und Russland zerren an der Ukraine

Bilder, die auch Semen Chalif aus Gelsenkirchen verfolgt und sich eine ganz eigene Meinung bildet: „Diese Situation zerreißt das Land, weil jeder an der Ukraine zerrt: die Europäische Union auf der einen Seite, Russland auf der anderen Seite. Beide Seiten ziehen und spalten die Bevölkerung.“

Semen Chalif ist 1940 in der Ukraine geboren. 1992 wanderte er mit Ehefrau, Tochter und Enkeltochter in die Bundesrepublik aus. Seitdem wohnt er in Gelsenkirchen-Buer und ist als Sozialarbeiter Ansprechpartner für Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen. Er hält regelmäßig Sprechstunden in seinem Büro in der Synagoge an der Georgstraße ab. Er hilft vor allem den älteren Gemeindemitgliedern, die die deutsche Sprache nicht gut beherrschen und Hilfe bei Behördengängen benötigen. Dass Chalif seine Stimme zum Thema Ukraine erhebt, möchte er begründen: „Ich habe einen deutschen und einen ukrainischen Pass. Ich lebe und arbeite seit vielen Jahren in Deutschland.“

Einstige Kornkammer ist heute vom Niedergang geprägt

Seitdem er in die Bundesrepublik übergesiedelt ist, fährt der 73-Jährige regelmäßig in seine Heimatstadt Odessa am Schwarzen Meer. Einst die Kornkammer der Sowjetunion sei die Ukraine jetzt vom wirtschaftlichen Niedergang geprägt. Es gebe wenige Reiche, aber viele Arme im Land. Einer Durchschnittsfamilie gehe es schlecht, aber vor allem die Rentner führten ein kärgliches Leben. „Sie müssen von 30 € Rente im Monat leben; in Russland bekommen Rentner 200 €.“

Eine Ursache für den Niedergang sieht Chalif in der Korruption und Vetternwirtschaft des Landes. „Wie kann es sein, dass ein Präsident in wenigen Jahren zum Milliardär wird?“, fragt er und zeigt hinter sich auf die Pinnwand mit der WAZ-Titelseite, auf der die neue Regierungsmannschaft mit Angela Merkel abgelichtet ist. „Frau Merkel verdient 10.000 Euro im Monat.“ Präsident Janukowytsch, aber auch die inhaftierte Oppositionspolitikerin Julia Tymoschenko hätten die Macht genutzt, um sich persönlich zu bereichern.

Einzig den ukrainischen Boxweltmeister Vitali Klitschko hält er für nicht korrumpierbar. „Klitschko geht es nicht um das Geld; er hat die Vorstellung, die Ukraine nach oben zu bringen, darum will er die Macht im Land. Er ist ein ehrlicher Mensch, aber für einen Politiker nicht ausgefuchst genug.“ Die Lösung für die Ukraine sei er nicht.

Demokratie braucht vor allen Dingen Zeit

Die Ukraine ist schwach und nicht reif für die Demokratie“, ist Semen Chalif überzeugt. Noch nicht. Demokratie brauche Zeit. „Mindestens 30, 40 Jahre.“ Mit dem Aufbau der Bundesrepublik nach ‘45 sei die Situation in der Ukraine nicht zu vergleichen. Den Deutschen habe die USA mit Geld und Demokratieunterricht geholfen. Die Überlegung der EU, die Ukraine auf dem Weg zu mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit finanziell zu unterstützen, sei sinnlos. „Die EU sollte sich grundsätzlich aus der Ukraine heraushalten. Hilfsgelder würden in dunklen Kanälen versickern, zum Schaden der Europäischen Union und Ländern wie Deutschland und Frankreich.“

Gibt es eine Rettung für die Ukraine? Semen Chalif lässt sich Bedenkzeit und formuliert seine Worte sehr genau: „In den nächsten Jahren ist in der Ukraine nicht mehr zu erwarten.“ Um dann doch noch eine Perspektive für seine alte Heimat, in der er unter dem Sowjetregime viele leidvolle Erfahrungen gemacht hat, aufzuzeigen. „In der Ukraine muss es ruhiger werden, damit das Land wieder zu Kräften kommt.“ Es müsse eine neue Regierung und einen neuen Präsidenten geben und dann, aber wirklich erst dann, müsse die Bevölkerung entscheiden, in welche Richtung die Ukraine geht. Die Annäherung an den Westen ist dabei nicht ausgeschlossen.