Gelsenkirchen. Nachdem Helmut Reichelt (69) im April 1999 entführt wurde, begann für ihn und seine Familie eine Leidenszeit. Heute ist er pflegebedürftig. Trotzdem schauen er und seine Frau Ilona positiv in die Zukunft.

Es war ein Freitag im April 1999 als das Leben des Busfahrers Helmut Reichelt aus der Spur geriet. Gegen 17.30 Uhr stieg ein psychisch erkrankter Mann in seinen Bus und drückte dem damals 55-Jährigen eine Pistole gegen den Kopf. Er zwang ihn, Gas zu geben. Die Irrfahrt dauerte mehrere Stunden und führte Helmut Reichelt, vier Insassen und ihren Geiselnehmer bis nach Venlo. Dort beendete die Polizei das Geiseldrama – unblutig. Danach ging die Irrfahrt für die Reichelts erst richtig los.

Heute ist es wieder ein Freitag, an dem etwas Bedeutendes in Helmut Reichelts Leben passiert. „Dann kommt er zurück zu mir nach Hause“, sagt Ehefrau Ilona Reichelt. Seit November 2012 lebt ihr Mann nicht mehr bei ihr, sondern auf Station 2 des St. Vinzenz Hauses, einem kath. Pflegeheim an der Kirchstraße. Hier bewohnt er ein kleines Einzelzimmer mit Balkon zur Straße.

Zwei Etagen tiefer sitzt seine Frau Ilona nun im Büro der Heimleiterin Silke Capani mit einer blauen Mappe vor ihr auf dem Tisch. Darin heften Artikel von diesem Freitag im April 1999. Sie muss die Geschichte erzählen, ihren Mann würde es zu sehr aufwühlen. Aber sie möchte berichten, gerade, „weil immer nur alle über die Täter sprechen und nie darüber, was aus den Opfern wird.“

Schweres Trauma

Durch die Entführung erlitt Helmut Reichelt ein schweres Trauma, das kaum behandelt wurde. „Zunächst versuchte er wieder Bus zu fahren, dann kam ein erneuter Überfall“, berichtet Ilona Reichelt. Ein Drogensüchtiger bedrohte den Busfahrer im Dienst nur wenige Wochen nach der Geiselnahme mit einer infizierten Spritze. Als sei das nicht schlimm genug, traf Helmut Reichelt ein zweites Mal auf seinen Geiselnehmer, der zwar eine Haftstrafe verbüßte, aber Freigang hatte. „Eines Tages stand er wieder bei Helmut im Bus und wollte mitfahren – da hat er ihn rausgeworfen.“

Danach ging es weiter bergab – der Familienvater versuchte das Erlebte mit Alkohol zu vergessen. „Er hatte auf nichts mehr Lust, dachte, dass er verfolgt wird und streifte nachts verwirrt umher“, erinnert sich seine Frau. Er kam ins Krankenhaus und in die Psychiatrie, ein Hin und Her. Schließlich musste er aufgrund des hohen Alkoholkonsums ins Krankenhaus. „Die Ärzte versetzten ihn ins Koma.“

Drei Monate wurde Helmut Reichelt künstlich ernährt und beatmet. Danach musste er zunächst in die Reha – wieder von vorn beginnen. „Dann haben sie auch noch Parkinson und Demenz festgestellt.“ Ihr Mann wurde innerhalb weniger Jahre zum Pflegefall. „Der Überfall hat ihn um viele Jahre altern lassen.“

Psychologisch betreut

Zuhause rieb sich Ilona Reichelt auf, um ihren Mann zu versorgen. Einer der drei Söhne überzeugte die Mutter, den Vater im Heim anzumelden. „Das war schwer“, erinnert sich Ilona Reichelt. Erst bezog er ein Doppelzimmer, später ein Einzelzimmer. Mittlerweile fühlt sich die Familie wohl mit dieser Lösung. „Es geht ihm besser, seitdem er hier ist.“ Der Vater wird psychologisch betreut, macht Fortschritte: „Er kann wieder alleine den Tisch abräumen.“ Und er kann wieder scherzen, wieder Großvater für die drei Enkelinnen sein.

In seinem Zimmer stehen Bilderrahmen mit Fotos der lachenden, blonden Mädchen. „Wir sind hier wie eine große Familie“, sagt Ilona Reichelt, die in anderen Angehörigen neue Freunde und Gleichgesinnte gefunden hat.

„Obwohl es ein Pflegeheim ist, haben wir uns hier immer gut aufgehoben gefühlt.“ Unterstützung erfahre sie im Haus und könne sich gut vorstellen, einmal selbst mit ihrem Mann dort zu leben. „Da haben wir aber hoffentlich noch ein bisschen Zeit“, lacht sie. An diesem Freitag geht es erst einmal zurück nach Hause, zurück in gewohnte Bahnen.