Gelsenkirchen. Der gebürtige Gelsenkirchener Professor Dr. Klaus-Michael Bogdal stellt sein Buch vor: „Europa erfindet die Zigeuner – Eine Geschichte von Faszination und Verachtung. Der 64-Jährige bekam dafür den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung.
Klischees über Zigeuner sind bereits aus dem Mittelalter bekannt. Durch freie Zuwanderungsmöglichkeiten in Europa ist das Thema auch in Deutschland wieder aktuell geworden. In der Flora stellte der gebürtige Gelsenkirchener Professor Dr. Klaus-Michael Bogdal sein Buch vor „Europa erfindet die Zigeuner – Eine Geschichte von Faszination und Verachtung.“
Die Forschung beschäftigt sich seit den 70er Jahren mit der Verfolgung und Ermordung der Roma und Sinti. Professor Dr. Stefan Goch, Leiter des Instituts für Stadtgeschichte, erinnert in seiner Einführung an die eskalierenden Verfolgungsprozesse, die Roma und Sinti auch in Gelsenkirchen zu spüren bekamen.
Kinder waren isoliert
Sie waren unerwünscht auf dem Lagerplatz neben dem damaligen Freibad Grimberg. Die Stadt siedelte sie um auf das unwirtliche Gelände zwischen der Zeche Alma und dem Schalker Verein. Ein SA-Sturm bewachte das Lager. Kinder waren isoliert, sie durften keine Schulen mehr besuchen. Ein Festsetzungsbeschluss der Nazis bedeutete, dass sie dort, am Rande der Gesellschaft, leben mussten. Fritz Capelle, damaliger Leiter des Fürsorgeamtes, hatte gar eine Einzäunung des Lagers mit Stacheldraht gefordert. Im März 1943 nach dem Auschwitzerlass wurden Roma und Sinti ins „Zigeunerlager“ Auschwitz deportiert und dort ermordet.
Die Wohnwagen, in denen Sinti und Roma in Gelsenkirchen gelebt hatten, wurden an Handwerksbetriebe verkauft. Proteste aus der Bevölkerung gegen die Behandlung der Zigeuner, so Professor Goch, hatte es wohl nicht gegeben. Der Lagerplatz an der Reginenstraße wurde aufgelöst, versehen mit der zynischen Bemerkung des städtischen Sachbearbeiters: „Mit der Rückkehr ist nicht zu rechnen.“ Von 304 deportierten Roma wurden 164 in Auschwitz ermordet, weitere wurden in anderen Lagern umgebracht.
Deutung romatypischer Verhaltensweisen
In seinem Buch untersuchte Professor Bogdal unter anderem die Entstehung der Begrifflichkeiten und Deutungen der vermeintlichen romatypischen Verhaltensweisen. Aus der mündlich verbreiteten Kultur der Roma hätten sich später Legenden, Märchen und Erzählungen entwickelt. So hält man die Sprache für jiddisch oder eine Gaunersprache. A
benteuerlich muten Deutungen für das Weiterziehen an. Mit ewiger Wanderschaft seien sie bestraft worden, weil sie für Jesu Kreuzigung Eisennägel geschmiedet hätten. Auch die Hilfeverweigerung der Heiligen Familie verdamme die unerlösten Zigeuner zur Wanderschaft. Tatsächlich lässt sich die Nichtsesshaftigkeit leicht erklären. Die Arbeit als Kesselflicker ließ sie zwangsläufig zu den nächsten Kunden weiterziehen.
Romantisierende Vorstellung des Zigeunerlebens
Um 1400 sind Gruppen nach Westeuropa gekommen, wanderten später in alle europäischen Länder ein. Die romantisierende Vorstellung des Zigeunerlebens sieht Wissenschaftler Bogdal im 19. Jahrhundert in allen europäischen Kulturen. Die reale Lebenswelt der Gruppen träfe es nicht. Die Vernichtungsfantasien seien bereits im 19. Jahrhundert entstanden, die Taten der Nazis wirkten wie Blaupausen. Eine Erkenntnis der Geschichtsforscher dürfte auch heute noch zutreffen: „Man weiß immer, wer sie sind, ohne sie zu fragen, wer sie sind.“
Und wie soll die Gesellschaft in Gelsenkirchen mit den bisher 2000 Einwanderern aus Rumänien und Bulgarien umgehen?, fragte eine Zuhörerin. Bogdal: „Es werden noch mehr Menschen kommen, die die Städte überrollen. Platzkämpfe im unteren Bereich der Gesellschaft gibt es immer. Wir müssen ihnen zeigen und mit ihnen kommunizieren, dass man hier auch anders leben kann. Wir dürfen sie nicht wieder verjagen.“ Doch im Überlebenskampf sieht der Wissenschaftler nicht die Lösung. Lebensperspektiven müssten sich in Bulgarien oder Rumänien entwickeln.
Seit 2002 hat Bogdal die Professur für Germanistische Literaturwissenschaft an der Uni Bielefeld. Für sein Buch „Europa erfindet die Zigeuner“ erhielt der 64-Jährige 2013 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung.