Gelsenkirchen.

Vom Flurfenster reicht der Blick über die Mauer, auf die Aldenhofstraße, in die Freiheit. Vom Büro aus ist das Sichtfeld deutlich eingeschränkter: auf den menschenleeren Hof, auf weiße Fassaden.

Seit gut einem Jahr hat Carsten Heim diese Aussicht. Wenn er nicht gerade irgendwo in den Werkstätten oder Büros und den Zellentrakten des riesigen Geländes unterwegs ist, Türen öffnet, Türen schließt, mit Mitarbeitern spricht, sich Eindrücke aus erster Hand verschafft. Heim, 53, Diplom-Psychologe und seit 1991 in Diensten des Landes NRW, ist seit Ende November 2011 Leiter der Justizvollzugsanstalt Gelsenkirchen. Zunächst, wie üblich, zwei Jahre auf Probezeit.

Von drei Monaten bis lebenslänglich

Doch Heim bringt viel Erfahrung mit. Von 2005 bis zu seinem Wechsel stand er an der Spitze der Gelsenkirchener Sotha, der Sozialtherapeutischen Anstalt, einer geschlossenen Sondereinrichtung für „behandlungsgeeignete und behandlungsmotivierte“ Straftäter. „Ich brauchte eine neue Herausforderung, auch wenn ich nun weniger mit dem eigentlichen Vollzugsgeschäft zu tun habe. Ich fand es spannend, ein wesentlich größeres System zu leiten“, sagt Heim. Das hat er nun. Und ein äußerst heterogenes noch dazu. Strafen von drei Monaten bis lebenslänglich sitzen die Inhaftierten in der JVA ab. In Zwei- bis Dreierzellen, in 12 qm großen Einzelzellen mit abgetrenntem Sanitärbereich. Kleine Dealer, Diebe und Mörder sind hier unter einem Dach vereint, Suchtabhängige, dazu junge Straftäter in Wohngruppen. Das ganze, oft teils behandlungsintensive Spektrum eben.

Eine gute Mischung 

Strafhaft, offener Vollzug, drei Hafthäuser für Männer mit je vier Abteilungen, dazu der Frauenbereich – eine Anstalt „mit solch einer Breite gibt es nur noch in Köln“, sagt Heim und weiß um die speziellen Herausforderungen auch für Mitarbeiter. Circa 300, davon 200 im allgemeinen Vollzugsdienst, sind für derzeit knapp 400 inhaftierte Männer und 200 Frauen zuständig. Mit Ralf Bothge steht dem Psychologen Heim ein erfahrener Stellvertreter zur Seite. Der 52-Jährige ist Jurist. Für beide ist die Kombination „eine gute Mischung“ für einen ganz besonderen Betrieb.

„Wir produzieren Sicherheit an 365 Tagen im Jahr und versuchen, Menschen wieder auf den rechten Pfad zu bringen, was in vielen Fällen gelingt. Das ist der Anspruch“, sagen beide. Einerseits. Andererseits ist die JVA auch ein mittelständisches Unternehmen: mit Werkstätten, Schlosserei, mit Zentralwäscherei für mehrere Haftanstalten und großer Küche. „600 Inhaftierte jeden Tag zu versorgen, braucht Arbeitskräfte. Hinzu kommen die klassischen Hausarbeiter für Pflege- und Renovierungsarbeiten. Wir wollen so viele Leute wie möglich einsetzen“, sagt Bothge. Weil Arbeit auch die Gemüter beruhigt. Doch sie reicht nicht für alle. „Rund 40 % der Inhaftierten können wir nicht beschäftigen. Manche wollen auch nicht“, sagt Heim. Sein Ziel: Künftig mehr berufsqualifizierende Maßnahmen mit Abschluss und so langfristige Perspektiven anbieten zu können, auch um die übliche Spirale in die Kriminalität zu stoppen.

Die aktuelle Situation

Die Situation aktuell? Ruhig. Was die Leiter auch darauf zurückführen, dass die Belegungszahl reduziert werden konnte. „Anfang 2012 hatten wir 700 Leute hier. Das war deutlich konfliktträchtiger. Lange gab es 400 bis 600 Eingaben pro Jahr. Mittlerweile sind es ungewöhnlich wenig“. Wenige Beschwerden – für Bothge ein klares Indiz für eine entspannte Lage.

Als Carsten Heim in die Feldmark wechselte, war noch mehr Dampf auf dem Kessel. Eine Massenschlägerei in der Freistunde lag gerade zwei Monate zurück. In dieser Größenordnung ein bislang einmaliger Vorgang. Über 40 Inhaftierte verschiedener Nationalität waren beteiligt, elf Personen wurden leicht verletzt. Es ging um Drogen.

„Natürlich gib es hier ethnische Gruppen, natürlich auch Verteilungskämpfe“, sagt Heim. Und Ralf Bothge ergänzt: „Gewalt gibt es im Knast. Es wäre ein Wunder, wenn es anders wäre.“ Aber dafür sei eigentlich bei der Auseinandersetzung „überaus wenig passiert. Das ist in der ganzen Abwicklung aus unserer Sicht gut gelaufen. Und man muss immer sehen: Es gab über 600 Menschen, die sich nicht geprügelt haben, die aber darunter zu leiden hatten, dass die Anstalt auf Null herunter gefahren wurde.“ Das bedeutet laut Heim: „Keine Arbeit, keine Freizeit, keine Besuche.“ Eine Extremsituation, an der „der größte Teil der Gefangenen kein Interesse hat.“ Die Leiter auch nicht.