Gelsenkirchen. Das Institut Arbeit und Technik untersuchte in einer Studie Strukturen in der Sozialwirtschaft. Es existieren1430 Tarifverträge. Der Reformbedarf in der Branche ist groß.
Es klingt paradox. Aber die Zukunft der Sozialwirtschaft, in der viele Menschen im Pflege- und Betreuungsbereich gebraucht werden, scheint an der Qualität der Arbeit zu scheitern. Tarifirrgarten, unterschiedliches Arbeitsrecht, zahlreiche Arbeitgeberverbände lassen die Branche wie einen Dschungel erscheinen. Privatdozent Dr. Josef Hilbert und die Sozialwissenschaftlerin Michaela Evans vom Institut Arbeit und Technik untersuchten in einer Studie im Auftrag der EU die Strukturen der Branche. Ihr Fazit: Der Reformbedarf in Organisation, Tarifgestaltung, Dialog zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ist gewaltig, die Sprachlosigkeit groß. Was sagen die Wissenschaftler dazu?
Woran krankt es in der Branche?
Dr. Josef Hilbert: Es gibt einen Wirrwarr an unterschiedlichen Verbänden und Tarifvereinbarungen. Wir haben in Deutschland 1430 Tarifverträge, darunter ganz wenige, die in der Fläche verbindlich sind. Diese unübersichtliche Vielfalt muss entzerrt, vereinheitlicht werden. Dazu sind verantwortliche Köpfe und weniger Kirchturmdenken gefordert. Nur so können belastbare Grundlagen für verlässliche Arbeitsplätze mit vernünftigen Arbeitsbedingungen geschaffen werden. Heute setzen viele Arbeitgeber auf Imagekampagnen. Ohne Verbesserungen bei den Arbeitsbedingungen werden sie wenig fruchten.
Müssen Gewerkschaften nicht stärker Fuß fassen?
Michaela Evans: Sie sollten eine größere Rolle als bisher spielen und sich stärker einmischen – nicht nur bei der Tarifpolitik, auch bei den Arbeitsbedingungen. Nur drei bis zehn Prozent der Mitarbeiter in der Sozialwirtschaft sind organisiert. Mehr Engagement von Gewerkschaften in den Mitarbeitervertretungen der konfessionellen Träger könnte auch weiterhelfen.
Wird es weiter Gehälter erster und zweiter Klasse geben?
Evans: Wenn sich nichts ändert, sicherlich. Es gibt heute große Ungleichheiten beim Einkommen, etwa für Pflegehilfskräfte in der ambulanten Altenhilfe. Dort sieht es nicht gut aus. Auch in der Jugendhilfe und in Kindergärten hinkt die Bezahlung hinter dem her, was woanders gezahlt wird. Viele sind sich einig, dass sich der Zustand ändern muss. Sicher ist auch die Politik gefragt.
In die Tarifhoheit wird Politik aber sicher nicht eingreifen wollen?
Hilbert: Es geht darum, auch den Sektor Sozialwirtschaft politisch anders zu gestalten. Eine Initiative sollte über Träger- und Konfessionsgrenzen hinausgehen. Sicher wird die Politik mittel- und langfristig mehr Geld für den Sozialstaat ausgeben müssen. Die Menschen halten Gesundheit und Soziales für ein hohes Gut. Deshalb kann Gesundheit zum Wirtschaftsmotor werden. Voraussetzung dafür, dass die Rechnung aufgeht, ist allerdings, dass die Anbieter sich für hohe Qualität und bessere Arbeitsbedingungen engagieren.
Liegt in der Sozial- und Gesundheitsbranche die berufliche Zukunft?
Hilbert: Wenn wir Klarheit über Arbeitsplatzbeschreibung, Tätigkeitsmerkmale, Arbeitszeit und Qualität der Arbeit haben werden, sicherlich. Es ist die größte Wachstumsbranche. Es muss aber eine Linie zu sehen sein, sonst wird die Branche nicht zukunftsfähig sein. Sie muss geschlossener agieren. Heute fehlt ihr die Schlagkraft.
Können sie Jugendlichen empfehlen, sich im Pflege- und Betreuungsbereich ausbilden zu lassen?
Evans: Mit Nachdruck. Der Bedarf an Arbeitsplätzen vor allem in der Pflegebranche wird zunehmen. Doch es gibt eine Unschärfe in der Fachkräftedebatte. Es muss klar definiert werden, welche Berufsgruppen gefragt sind. Heute sorgen sich beispielsweise Pflegehilfskräfte viel stärker um den Erhalt ihres Arbeitsplatzes als Fachkräfte.
Wird Ihre Studie Gehör finden?
Hilbert: Wir haben aus der Branche schon viel Resonanz bekommen. Dort fängt man an, nach Lösungen zu suchen. Ich hoffe, dass neue Wege für transparente und verbesserte Arbeitsbedingungen gefunden werden. Die Studie geht auch nach Brüssel. Dort wird demnächst über den sozialen Dialog im Pflegebereich debattiert. In drei Jahren werden wir sicherlich auch EU-Anregungen erhalten für eine bessere Gestaltung der Arbeitswelt in der Sozialwirtschaft.