Gelsenkirchen. . Seit 2006 stieg die Zahl der Entziehungen der elterlichen Sorge um 46 Prozent,gerichtliche Ermahnungen um 60 Prozent. Interview mit Alfons Wissmann.

NRW-Familienministerin Ute Schäfer (SPD) will per Gesetz sicherstellen, dass Jugendämter und Träger der Kinder- und Jugendhilfe „noch frühzeitiger auf Eltern zugehen“. Mit Alfons Wissmann, dem Referatsleiter Erziehung und Bildung, sprach WAZ-Mitarbeiter Tobias Mühlenschulte über den Status Quo in Gelsenkirchen.

Wegen steigender Zahlen von Kindern in NRW, die vom Jugendamt aus Problemfamilien genommen werden, plant Familienministerin Ute Schäfer ein Gesetz zum präventiven Kinderschutz und für frühe Hilfen. Wie bewerten Sie das?

Alfons Wissmann: In Gelsenkirchen haben wir bereits im Jahr 2003 das Team Familienbildung und Familienförderung gegründet, weil uns bewusst wurde, dass häufig junge Familien in Not geraten. Und zwar, weil ihnen nicht vor der Entwicklung von Problemen Hilfsangebote unterbreitet wurden. Letztlich sollte sich diese Sicht eigentlich überall durchgesetzt haben. Leider ist dieses jedoch nicht der Fall. Deshalb ist es der richtige Schritt, wenn nun das, was wir seit vielen Jahren in Gelsenkirchen praktizieren, auch in eine gesetzliche verpflichtende Form gegossen wird. Ziel muss es jedoch sein, Familien zu helfen und nicht, Familien zu sanktionieren.

In NRW hat die Zahl der Kinder, die aus Familien genommen werden mussten, seit 2005 um 25 Prozent zugenommen. 2011 waren 10 617 Kinder betroffen. Wie ist die konkrete Entwicklung in Gelsenkirchen in Zahlen?

Wissmann: Derzeit leben 199 Kinder und Jugendliche aus Gelsenkirchen in Heimen und 271 Kinder und Jugendliche in Pflegestellen außerhalb der Herkunftsfamilie. Auch in Gelsenkirchen ist die Fallzahl steigend. Es wird jedoch sehr darauf geachtet, dass Kinder möglichst in familiären Strukturen aufwachsen. Dieses erkennt man auch an dem Verhältnis von Heimpflege zu Familienpflege.Dennoch gilt in der Sozialarbeit: Je genauer die Instrumente und je genauer hingeschaut wird, desto mehr Defizite werden erkannt. Diese Entwicklung beurteile ich jedoch positiv, weil allen Handelnden klar ist, dass Wegschauen für die Gesellschaft am teuersten ist.

Die häufigsten Ursachen waren in NRW Überforderung (4560 Fälle), Beziehungsprobleme der Eltern (1838) und Vernachlässigung des Kindes (1121). Wie sind die Zahlen vor Ort?

Wissmann: Die Instrumente zum Thema Kinderschutz wurden in den letzten Jahren deutlich nachgeschärft und die Sensibilität in der Bevölkerung in Bezug auf dieses Thema ist erheblich gewachsen. Die schrecklichen Fälle in Bremen, Hamburg oder Berlin haben die Gesellschaft wachgerüttelt. Insofern darf es auch nicht verwundern, wenn die Zahl der Inobhutnahmen erheblich zugenommen hat. Dieses gilt auch für Gelsenkirchen. Hier stieg die Zahl seit 2006 von 117 Fällen auf 165 Fälle. Im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der Entziehungen der elterlichen Sorge um 46 Prozent. Auch die gerichtlichen Ermahnungen in Bezug auf die elterliche Sorge sind um mehr als 60 Prozent gestiegen.

Wie könnte eine verbesserte Prävention in den Kitas und Familienzentren vor Ort aussehen und funktionieren?

Wissmann: Wir wissen, dass Familien in armutsnahen Lebenslagen sich isolieren und sehr häufig den Weg zu helfenden Institutionen nicht gehen oder nicht finden. Deshalb reicht eine reine Angebotsstruktur, egal ob dezentral oder zentral, nicht mehr aus. Eine direkte Ansprache und Hinführung der Eltern zu den vorhandenen Angeboten ist erforderlich. Hausbesuche, Dezentralisierung der Angebote in den Wohnbereichen – das scheint ein erfolgreicher Weg für die Zukunft zu sein.