Gelsenkirchen. .

Jede Stimme zählt – aber viele Chöre und Gesangsvereine der Stadt verzeichnen (ähnlich wie viele Sportvereine) einen regelrechten Mitgliederschwund und damit immer weniger Stimmgewalt. „Ich verstehe einfach nicht, warum viele Chorgemeinschaften heute einfach keinen Nachwuchs mehr finden“, sagt Werner Falk vom WAZ-Leserbeirat, der selbst seit Jahren singendes Mitglied im Polizeichor Gelsenkirchen ist.

„Immer mehr Chöre sterben einfach aus – und mit ihnen eine lange Tradition, die über Jahre hinweg in dieser Stadt gepflegt wurde“, so Falk. Die WAZ hat sich daraufhin auf Spurensuche begeben und nach Ursachen und Lösungsmöglichkeiten gefahndet. Begegnet sind uns dabei viele „Vielleichts“, aber wenige konkrete Ideen. Fakt ist: Vor allem die alteingesessenen und traditionsreichen Männerchöre haben inzwischen Nachwuchssorgen. Und während manche dem Problem ratlos gegenüber stehen, beschreiten andere ganz neue Wege. Wie etwa der Männerchor Frohsinn 1909, der neuerdings auch Frauen in die eigenen Reihen aufgenommen hat.

„Dieses Projekt steckt quasi noch in den Kinderschuhen, wir tasten uns da ganz langsam heran. Unser Chor wird natürlich auch weiterhin Männerchor heißen, aber wir haben gemerkt, dass wir etwas ändern müssen. Denn unser Chor wird immer älter, unsere Sänger sind im Schnitt um die 60 – und von den Glanzzeiten, in denen unser Chor 90 Mitglieder zählte, sind wir inzwischen weit entfernt. Derzeit sind es rund 35 Männer, die gemeinsam auf der Bühne stehen, es werden aber aus demografischen Gründen immer weniger. Wir setzen also jetzt auf starke weibliche Unterstützung“, erklärt Fred Rahmann, der 1. Vorsitzende bei „Frohsinn“. Erst einmal sollen Männer und Frauen allerdings noch getrennt voneinander singen, wie das klingt, kann man am Sonntag beim ersten gemeinsamen Konzert in der Glashalle von Schloss Horst erleben.

„Wir haben vorher natürlich schon viel versucht, um jüngere Männer für unseren Chor zu begeistern, haben unser Repertoire deutlich erweitert und auch Popsongs mit aufgenommen. Aber das ist eine echte Gratwanderung: Man möchte die älteren Mitglieder, die wegen des traditionellen Liedguts und dessen Pflege kommen, nicht verprellen. Zeitgleich schreckt genau diese Chorliteratur aber viele junge Menschen ab“, so Rahmann.

Polizeichor hat auch Mitglieder Probleme

Ähnliches hat auch Friedhelm Mruck, seit 16 Jahren 1. Vorsitzender des Gelsenkirchener Polizeichores, beobachtet. „Irgendwann kam so ein Knick, und die jungen Sänger blieben einfach weg, weil sie mit den traditionellen Chorliedern nichts anfangen konnten. Schauen Sie sich die Gospelchöre an, die haben großen Zulauf. Aber immer mehr alteingesessene Chöre in dieser Stadt zählen heute nur noch zehn bis 15 Sänger, weil kein Nachwuchs mehr hinzukommt. Auch bei uns liegt der Altersdurchschnitt inzwischen bei 65 Jahren – und wir haben, was Nachwuchswerbung angeht, fast alles versucht: Busse beschriftet, Werbung ausgehängt, aber all’ das hat nicht ein neues Mitglied eingebracht. Am besten funktioniert eben noch die persönliche Anwerbung. Aber auch da haben wir gemerkt, dass sich die jüngere Generation heute einfach nicht mehr fest an wöchentliche Probentermine binden kann oder will. Für viele Ältere war es vor allem das Gemeinschaftsgefühl, das von einem Chor ausgeht, was sie angezogen hat. Dieses gesellschaftliche Phänomen wandelt sich aber gerade, Gemeinschaften entstehen auf andere Weise, nicht unbedingt in festen Vereinen.“

So bleibt nur die Hoffnung, dass das Mitsingen im Chor eines Tages wieder „Kult“ wird. Damit diese klangvolle Tradition nicht ausstirbt.

Die Redaktion hat nachgefragt

Bei unseren Recherchen zum Thema „Chornachwuchs“ tauchte immer wieder der Hinweis auf, dass der Gelsenkirchener Bachchor keine Nachwuchssorgen kennt. WAZ-Redakteurin Anne Bolsmann fragte daraufhin Chorleiter Lothar Trawny nach seinem Geheimrezept.

Herr Trawny, wie schaffen Sie es, bei einem alteingesessenen Chor wie dem Gelsenkirchener Bachchor immer wieder junge Stimmen zu finden, während andere über Nachwuchssorgen klagen?

Lothar Trawny: Da gibt es ein ganz einfaches Rezept – man muss dafür sorgen, dass der Altersdurchschnitt nicht zu hoch wird. Sobald man viele Sänger hat, die über 40 Jahre alt sind, kommen keine Jungen mehr hinzu. Diese Erfahrung habe ich über die Jahre hinweg gemacht.

Das wird jetzt schwierig, etwa für die Männerchöre in der Stadt, die können ja nicht einfach alle älteren Semester rausschmeißen. . .

Trawny: Wenn man junge Männer für einen Chor begeistern möchte, müsste man eigentlich einen neuen gründen. Die meisten jungen Leute wollen heute a cappella singen, mit traditioneller Chorliteratur lockt man niemanden mehr. Dabei finde ich es sehr bewundernswert, dass es Männerchöre in dieser Stadt gibt, die ein zweistündiges Programm aus dem Stegreif singen. Die haben ihr Repertoire so verinnerlicht, dass sie eigentlich gar nicht mehr proben müssten. Nur gibt es bei uns eben nicht die Tradition, dass die Väter ihre Söhne mitnehmen in ihren Männerchor, so wie es in ländlichen Regionen üblich ist. Da wächst man dann in die Chorgemeinschaft hinein. Wer wirklich Interesse an gutem Nachwuchs hat, muss Talente früh fördern. Eigentlich müsste man damit schon im Kindergarten anfangen und die Sänger während ihrer ganzen Schullaufbahn begleiten.