Gelsenkirchen. Harry Rowohlt liest und singt, erzählt und spottet und liefert im Musiktheater eine vierstündige Dichterlesung, „bei der man wenigstens was lernen kann“. Egal ob Hanseatisch, Ruhrpott-Deutsch, Österreichisch und Schwäbisch: die Hamburger Literatur-Ikone ist ein Stimmen- und Dialekte-Wunder.
Immer wenn Harry Rowohlt nach Gelsenkirchen kommt, sucht er die Straße, in der er als Achtjähriger gewohnt hat. Bislang ohne Erfolg. Ob der Übersetzer, Autor und Schauspieler nach seiner Lesung am Sonntag im kleinen Haus des Musiktheaters einen weiteren Versuch unternommen hat, ist ungewiss. Falls ja, dann erst weit nach Mitternacht. Fast vier Stunden las, sang und plauderte die Hamburger Literatur-Ikone. Trotz schwerer Krankheit.
Mit einem lapidaren „Moin“ begrüßt der Mann, der Karl Marx zum verwechseln ähnlich sieht und mittlerweile 173 Bücher übersetzt hat, sein Publikum, um in die von ihm erfundene „Anschleimphase“ überzugehen. Fünf Minuten schmiert der 66-Jährige seinen Zuhörern Honig um den Mund, bloß nicht länger. Das wäre schlecht fürs Image. Stattdessen lästert der Sohn des Verlegers Ernst Rowohlt über die grün beleuchtete Glasbaustein-Skulptur vor dem MiR.
Genau wegen dieser Ausflüge in die Gefühlswelt und das Leben eines Tausendsassas sind die Rowohlt-Auftritte fast immer ausverkauft. Auch in Gelsenkirchen. Der Stadt, in der Rowohlts Mutter Maria Pierenkämper die Rolle der Maria Stuart in Schillers gleichnamigen Drama am Theater (damals noch am alten Bahnhof beheimatet) spielte. Rowohlts Koffer ist prall gefüllt mit Anekdoten und mit Fakten rund um Kunst, Literatur und Politik. Er ist viel gereist, zu Kongressen nach London, Dublin, in die USA und ins Schloss Bellevue. Die Kolumnen aus denen Rowohlt vorliest oder die Passagen aus den Büchern, die er übersetzt hat, sind Aufhänger für seine bunten „Stories“.
Früher gab es „Schausaufen mit Betonung“
Die Frage, warum man eine Dichterlesung besucht, ist für Rowohlt schnell beantwortet: „Wenn ich mich schon nicht amüsiere, dann will ich wenigstens was lernen.“ So erfährt der Besucher beispielsweise, dass im belgischen Eupen Deutsch gesprochen wird, woher das Wort Binsenweisheit seine Bedeutung hat und dass Martin Luther die Bibel ursprünglich ins Sächsische übersetzt hat. Rowohlts Opa Franz Pierenkämper hat den Spartakusbund mitbegründet und mit seiner Frau lange in Bochum gelebt. Dass es orthopädische Cowboy-Stiefel gibt, zeigt Rowohlt am lebenden Objekt. Die trägt er, weil er an der Nervenkrankheit Polyneuropathie leidet. Als „Schausaufen mit Betonung“ hat Rowohlt seine Auftritte früher tituliert. „Ich bin angefeindet worden, weil ich nicht mehr saufe, auch in Gelsenkirchen“, stellt Rowohlt zynisch fest. „Seit dem 26. Juli 2007“ sei er nun trocken.
Dass Harry Rowohlt, der in der Lindenstraße seit 16 Jahren den Penner Harry spielt, unzählige Hörbücher eingesprochen hat, ist kein Zufall. Egal ob Hanseatisch, Ruhrpott-Deutsch, Österreichisch und Schwäbisch: der Mann ist ein Stimmen- und Dialekte-Wunder. Und ein exzellenter Beobachter. Nach fast vier Stunden Programm, darunter auch Witze und gesungene Hymnen, gibt Rowohlt eine Zugabe, die er als „absoluter Hammer“ ankündigt. Als Stimmvirtuose trägt er einen Text von Jan Neumann vor. Die Nummer „Knoll´s Katzen“ ist bei seinen Fans längst Legende.