Recklinghausen. . Sprachtalent mit Hang zum Skurrilen: Harry Rowohlt liest und plaudert im Recklinghäuser Ruhrfestspielhaus.

Es vergehen 17 Minuten, bis Harry Rowohlt zum ersten Mal an diesem Freitagabend aus einem Buch rezitiert. „Sie sind ein schlechter Mensch Mr. Gum!“ ist ein Kinderbuch des Briten Andy Stanton, Rowohlt hat es übersetzt und ist Sprecher der Hörbuchfassung. Beides verbindet er gerne miteinander, wie etwa bei dem Kinderbuchklassiker „Pu der Bär“. Daneben arbeitet der 66-jährige Sohn des Verlegers Ernst Rowohlt als Schriftsteller und Kolumnist, in der „Lindenstraße“ spielt er den obdachlosen Penner Harry. Seine Lesungen unterbricht der „Paganini der Abschweifung“ regelmäßig mit Anekdoten und Geschichten aus seinem Leben.

Das Institut für Kulturarbeit, die Stadtbücherei und die Neue Literarische Gesellschaft Recklinghausen (NLGR) haben Rowohlt am Freitagabend ins Ruhrfestspielhaus eingeladen. „Moin Moin!“, begrüßt er dort, ganz Hamburger, sein Publikum im prall gefüllten Lesesaal Kassiopeia. Unter seinem schwarz-grauen, etwas groß geratenen Sakko trägt er ein Hemd derselben Farbrichtung, die ausgewaschene hellblaue Jeans fällt auf schwarze Cowboystiefel. Ein Ghanaer habe sie ihm handgefertigt, sagt Rowohlt.

Die Verbindung zur Region suchend, stellt er sich als genetischen „Halb-Bochumer“ vor: „Mein Opa war Sitzredakteur bei der Bochumer Zeitung“.

Dann, nach einigen Schwenks zu weiteren Verwandten, greift Rowohlt zu anfangs erwähntem Buch um den notorischen Chaoten Mr. Gum. Der kauzige Kinderbuchheld führt ein verlottertes Leben zwischen Kakerlaken und schimmelnden Pizzakartons, hasst Kinder, liebt das Faulenzen. Nur seinen Garten pflegt er sehr, wofür jedoch eine kleine Fee verantwortlich zeichnet.

Skurrile Geschichten wie diese sind Rowohlt und seiner sonoren Stimme wie auf den Leib geschnitten. Indem er Intonation, Tonhöhe und Geschwindigkeit variiert, erweckt er die unterschiedlichsten Charaktere zum Leben.

Mehrfach setzt Rowohlt sein so markant klingendes Organ an diesem Abend auch zum Singen ein: „Komm lass uns einen kleinen Rumba tanzen, denn Rumba ist modern“. Dabei überrascht er mit seiner Wandlungsfähigkeit. Auch dafür liebt ihn das Publikum, es klatscht begeistert. Als er später die amerikanische Nationalhymne schmettert, wird aus „Oh say, can you see“ in der Übersetzung „Hossé kannst nix seh‘n“. Ehrensache, dass Rowohlt auch die Hamburger Hymne vorträgt; als niemand aufsteht, ruft er „Recklinghausen hat sich nicht erhoben, das wird euch noch leid tun!“ und hat die Lacher auf seiner Seite.

Immer wieder sind es Orte, von denen Rowohlt erzählt. Vom Ostseebad Binz bis nach Wien – überall hat er Menschen getroffen, Geschichten gesammelt und mit gekonnten Pointen versehen, viele davon zu lesen in seinen Kolumnen für Die Zeit: „Jetzt seh ich mir den Hafen an, bin in vier Minuten wieder hier“ verglich er voll Ironie den Hafen der Bremer mit dem seiner Heimatstadt Hamburg. „Lindenstraße?“ habe ihm ein Busfahrer in Hamm fragend zugerufen und er geantwortet: „Stadtwerke Hamm?“

Nach drei Stunden und zwanzig Minuten verstummt Harry Rowohlt und tritt von der Bühne ab. Ganz unauffällig. Denn sein Talent liegt nicht in großen Gesten, sondern allein in der Sprache, was er als Übersetzer, Schriftsteller oder Sprecher immer wieder aufs Neue beweist.