Gelsenkirchen. Als Einstieg in den „Ernst des Lebens“ wird der Einschulungstag gern bezeichnet. Für einige Mädchen und Jungen bringt der neue Lebensabschnitt tatsächlich ernsthafte Probleme mit sich.

Wie die aussehen können und welche Möglichkeiten der Hilfe es gibt, erläuterte der leitende Psychologe der Kinder- und Jugendklinik, Dietmar Langer, im Gespräch mit Redakteurin Inge Ansahl.

Herr Langer, welche Probleme kann der Übergang vom Kindergarten zur Schule mit sich bringen?

Dietmar Langer: Die Schule ist ein ganz anderes System als der Kindergarten: neue Wege, ein neuer Ort, strengere Regeln und andere Bezugspersonen. Hier können Kinder in der ersten Zeit auch schon mal Angst oder Widerstand entwickeln. Manchmal haben aber Kinder dauerhaft Angst, in die Schule zu gehen, man spricht dann von einer Schulphobie. Dahinter stecken meist Trennungsängste mit einer längeren Vorgeschichte.

Können Sie Beispiele nennen für Auffälligkeiten bei Kindern?

Langer: Typische Beispiele für mögliche Schulprobleme sind z.B. anfängliche Schwierigkeiten bei den Hausaufgaben, wenn das Kind sich dagegen sperrt, träumt oder sich nicht konzentrieren kann. Das Kind muss erst noch lernen, fremdbestimmte Anforderungen zu akzeptieren oder eine gewisse Frustrationstoleranz aufzubauen. Dazu benötigt es die Geduld und Präsenz der Eltern. Manchmal geraten Kinder auch so unter Stress, dass sie mit Kopf- oder Bauchschmerzen reagieren, sich auffällig zurückziehen oder den Klassenkasper machen. Dies kann mit Stress- und Angstreaktionen zu tun haben.

Was ist da zu tun?

Langer: Eltern sollten wohlwollend und verständnisvoll sein, aber konsequent in der Einhaltung von Regeln für die Kinder. Das Kind sollte in seinem Selbstvertrauen bestärkt werden, es ist ok, auch wenn nicht alles sofort klappt. Zu festen Absprachen gehört unbedingt die elterliche Präsenz. In der Einrichtung betreute Kindern benötigen ebenfalls dort eine Bezugsperson - nicht nur einen Aufpasser. Letztlich müssen wir auch schauen, wie sich das Kind in anderen Lebensbereichen verhält, wie es dort mit Anforderungen umgeht.

Sind denn Kinder heute anders als früher?

Langer: Nicht die Kinder haben sich verändert, sondern unsere Gesellschaft. Wir haben heute ein viel stressogeneres System. Für die Eltern ist es auch schwieriger geworden, Sicherheit und Orientierung zu finden. Neben Stress und Reizüberflutung können auch Unsicherheit und Führungsschwäche Gründe für Probleme sein. Dabei brauchen Kinder gerade in den ersten ein, zwei Schuljahren das verlässliche Rückgrat der Eltern und einen zuverlässigen Rahmen.

Was müssen Kinder in der Schule außer Rechnen, Schreiben, Lesen lernen?

Langer: Kinder müssen lernen, mit Konkurrenz umzugehen, Frustrationen wegzustecken, fremdbestimmte Leistungen zu erbringen und sich in die Gemeinschaft einzufügen. Ein Kindergartenkind hält sich in gewisser Weise noch für einen Alleskönner, doch jetzt muss es erfahren, dass ein anderes Kind bestimmte Dinge besser kann. Dieses zu akzeptieren und ein positives Selbstbild zu entwickeln ist Teil der Entwicklungsprozesse in der Schulzeit. Schule ist ein wichtiger Bestandteil der Persönlichkeitsbildung. Für den langfristigen Schulerfolg eines Kindes ist die emotional-soziale Stabilität wesentlich wichtiger als die Frage, ob es schnell rechnen oder schreiben lernt.

Haben Kinder, die unauffällig sind, keine Probleme?

Langer: Der scheinbar Unauffällige ist nicht per se der Entspanntere. Kinder entwickeln Verhaltensstrategien. Zum Beispiel zeigen einige einen extrem hohen Ehrgeiz, um nicht zu versagen. Sie machen ihre Hausaufgaben, zeigen keinerlei Protest, stehen aber ständig unter Druck und können mit Misserfolg nicht umgehen. Wer sich selbst so unter Stress setzt, dessen Leistung kann irgendwann abfallen.

Welche Rolle spielen Lehrer vor diesem Hintergrund?

Langer: Eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Lehrern und Eltern ist grundsätzlich sehr wichtig. Wenn Kinder auffällig sind, ist ohne eine gemeinsame Strategie keine erfolgreiche Veränderung möglich.

Was sagen Sie Eltern, die Ihren Rat suchen?

Langer: Ich erzähle, was der Wechsel vom Kindergarten zur Schule für Kinder bedeutet und welche typischen Phänomene es in der Grundschulzeit gibt. Phänomene wie z.B. Flüchtigkeitsfehler oder Konzentrationsmangel. Ich versuche zu erklären, was da in den Kindern passiert. Für Eltern ist das erste Schuljahr genauso spannend wie für das Kind. Sie müssen lernen loszulassen, zum Beispiel zu akzeptieren, dass Leistungen der Kinder jetzt von anderen beurteilt werden. Dieses Loslassen fällt Eltern nicht immer leicht.

Wann sind Kinder aus Ihrer Sicht überhaupt schulreif?

Langer: Bei der Entscheidung, ob ein Kind eingeschult werden soll oder nicht, sollte auch die langjährige Beobachtung der Kita-Erzieherin und die Erfahrungen der Eltern einbezogen werden. Ohne eine gewisse emotional-soziale Kompetenz kann ein Kind nicht erfolgreich lernen. Ein einzelner Test ist immer nur eine Momentaufnahme und kann nie für sich alleine stehen, sondern muss, wenn er Gültigkeit haben soll, immer mit den anderen Beobachtungen in Übereinstimmung gebracht werden können. Im Zweifel sollte man lieber mit der Einschulung warten.