Gelsenkirchen/Münster. Was junge Muslime tun, die auf Radikal-Prediger im Netz stoßen. Und warum es zu wenig Islam-Lehrer gibt. Das sagt Islampädagoge Darjusch Bartsch.
- Der Islam-Pädagoge Darjusch Bartsch sagt: „Radikalisierung ist ein gesamtgesellschaftliches Thema, kein vornehmlich religiöses.“
- Jüngst hat er in eine Studie gezeigt, wie sich junge Muslime verhalten, die auf radikale Inhalte im Netz stoßen. Er sagt: Abgeglichen wird viel mit dem sozialen Umfeld.
- Deswegen sei es wichtig, geschulte Islam-Lehrer im Umfeld zu haben. Bartsch selbst bildet solche Lehrer aus, auch in Gelsenkirchen arbeiten seine Absolventen.
„Was in unserer Gesamtgesellschaft passiert, geschieht auch in den Randgruppen. Und die Muslime sind nun mal die größte Randgruppe unserer Gesellschaft, in der die meisten übrigens deutsche Staatsbürger sind“, sagt Dr. Darjusch Bartsch zum Thema Radikalisierung.
Der wissenschaftliche Mitarbeiter am Lehrstuhl für Islamische Theologie und Religionspädagogik an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster hält es für fatal, das Thema vornehmlich mit Blick auf den Islam zu besprechen und damit „Randgruppen zur Projektionsfläche“ zu machen – auch nach der tödlichen Messerattacke von Mannheim. Ein Islamist habe versucht zu töten, ja – aber ein muslimischer Polizist beendete die Gewalt und eine Sanitäterin mit Kopftuch habe die Verletzten versorgt. Bartsch sagt daher: „Radikalisierung ist ein gesamtgesellschaftliches Thema, kein vornehmlich religiöses“
- Theologe Joshua O. Milk hat eine andere Position zum Thema Radikalisierung. Lesen Sie hier mehr: Lehrer in Gelsenkirchen: „Radikalisierung ist voll im Gange“
Aber auch Bartsch verneint nicht, dass radikale Islamisten auf sozialen Medien schnell Verbreitung finden können. In der Tat würden sich junge Muslime durchaus „bei sehr fragwürdigen Personen“ auf sozialen Medien wie Tiktok, Instagram oder YouTube informieren. Und auch die Kalifatsbewegung, die in den letzten Monaten Demonstrationen in mehreren Großstädten veranstaltete, habe nun einmal ihren Ursprung in Social Media.
Radikalisierung: Diskriminierung und persönliche Ausgrenzung als Hauptproblem
„Jedoch“, das sagt Bartsch auch, „werden diese Informationen von dort nicht einfach eins zu eins übernommen, sondern im eigenen Umfeld überprüft, weil man weiß, dass man ihnen nicht wirklich vertrauen kann.“ Gezeigt habe er das jüngst in einer qualitativen, nicht repräsentativen Studie, für die er 25 junge Muslime an Berufskollegs im Ruhrgebiet und in Münster befragt hatte.
Das Umfeld, das könnten Familienmitglieder, der Imam der örtlichen Gemeinde oder auch der Islam-Lehrer in der Schule sein, „von denen es immer noch viel zu wenige gibt.“ Bartsch, der 15 Jahre lang selbst an Brennpunktschulen im Ruhrgebiet arbeitete, bildet in seiner heutigen Position Lehrer für den Islamunterricht aus („viele Absolventen arbeiten auch in Gelsenkirchen“). Sie könnten den Jugendlichen, die auf fragwürdige Inhalte im Netz stoßen, natürlich Orientierung geben. „Aber wenn das Umfeld auch sachfremd ist, werden die falschen Vorstellungen aus den sozialen Medien übernommen. Da ist ein hohes Potenzial für Radikalisierung vorhanden.“
Generell müsse man bei den Radikalisierungstendenzen aber sehr genau differenzieren. „Das ist von Familie zu Familie, von Fall zu Fall sehr different zu betrachten“, sagt er. Bei der Frage, wie radikal einzige Gemeinden seien, könne man sich auf die Einschätzung des Verfassungsschutzes verlassen.
In Workshops für Sozialarbeiter und Lehrkräfte vermittelt Bartsch aktuell auch Grundlagen und historische Zusammenhänge zum Nahost-Konflikt. Auch der Islam-Forscher weiß, dass der Krieg derzeit als Brandbeschleuniger wirken kann. Er glaubt jedoch nicht, dass eine Stadt wie Gelsenkirchen aufgrund des geringen Bildungsstandes und der wirtschaftlichen Schwäche vieler Menschen besonders anfällig für eine Welle der Radikalisierung sei.
„Es sind gerade auch viele intellektuelle, hochgebildete Menschen zum IS übergelaufen“, sagt er hierzu. Nicht der Bildungsstand sei der Hauptfaktor für Radikalisierung, sondern die Frage, „ob jemand selbst Diskriminierungserfahrungen oder persönliche Ausgrenzung erlebt hat.“
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Über diese zentrale Wurzel der Radikalisierung werde zu wenig gesprochen und politisch nachgedacht, meint der Wissenschaftler. „Die Radikalisierung ist vor allem ein sozialpsychologisches Problem“, sagt er. Der Schwerpunkt in der Politik müsse deshalb gesetzt werden „auf die fehlenden Partizipationsmöglichkeiten, die fehlende gesellschaftliche Teilhabe“ von muslimischen Menschen, die immer noch von vielen nicht als Teil der deutschen Gesellschaft betrachtet würden. „Man muss den Menschen Angebote machen.“ Sie weiter auszugrenzen dagegen sei genau der falsche Weg.
Innermuslimische Stille nach Mannheim? „Entspricht nicht ganz den Tatsachen“
Nach dem Mord von Mannheim wird an vielen Stellen eine deutlichere Reaktion der muslimischen Gemeinden eingefordert, auch vom Theologen Joshua O. Milk im WAZ-Gespräch. „Die Stille, die man in der öffentlichen Berichterstattung seitens muslimischer Communitys wahrzunehmen meint, entspricht nicht ganz den Tatsachen“, mein hingegen Bartsch. Viele Muslime hätten sich in sozialen Netzwerken eindeutig positioniert und gleichzeitig auch auf die muslimische Religionszugehörigkeit des Polizisten und der Sanitäterin aufmerksam gemacht.
Und: „Gerade vor dem Hintergrund von Fremdzuschreibungen ist das Einfordern bestimmter Positionen von Menschen, welche man vorher selbst stigmatisiert hat, fragwürdig“, meint Bartsch „Denn die meisten Muslime verurteilen gerade wegen ihres Glaubens solche Taten wie in Mannheim.“