Gelsenkirchen. Mit Vorurteilen haben Familien mit hochbegabten Kindern oft zu kämpfen. Ihre teils langen Leidenswege schildern sie in einem Gesprächskreis.

Dieser Text ist erstmals im April 2024 von uns veröffentlicht worden.

Oft ernten Eltern ein mitleidiges Lächeln, wenn sie von ihrem hochbegabten Kind berichten, meist verbunden mit einem eher verächtlichen Zug um den Mund des Zuhörers. „Und warum hat es dann nicht nur Einser auf dem Zeugnis?“, lautet die Frage, die lautlos hinter der Stirn Unbeteiligter dann aufleuchtet.

Langfristige Unterforderung kann extreme Folgen haben

Cathrin Artmann kennt solche Situationen sehr gut. „Aber nicht jedes Kind, das eine sehr schnelle Auffassungsgabe hat, sehr schnell lernt, zeigt das auch. Wenn das Kind sich aufs Lernen in der Schule freut nach der Unterforderung in der Kita, in der ersten Klasse aber stundenlang das „A“ spuren soll, obwohl es dies längst schreiben kann, dann ist es enttäuscht, langweilt sich. Still sitzen ohne zu lernen - das ist oft eine Qual für sie. Bauchschmerzen und Schulverweigerung können folgen.“

Hilfe finden Gelsenkirchener Eltern in solchen Fällen im Gesprächskreis der Deutschen Gesellschaft für das hochbegabte Kind Rhein-Ruhr e.V.(DGhK), den Artmann als am Internationalen Begabungszentrum in Münster ausgebildeter ECHA-Coach (ECHA steht für „European Council for High Ability“) leitet. Wir haben eine solche Sitzung besucht.

„Mein Sohn ist jetzt im Internat. Das war unsere letzte Chance, wir konnten nicht mehr“, berichtet eine Mutter aus dem Gesprächskreis gleich zu Anfang. Der Junge hatte nach der Grundschule, wo es dank hilfreicher Lehrkraft noch gut lief, zwei Gymnasien verlassen müssen, weil Lehrer und Mitschüler nicht mit ihm zurechtkamen. „Natürlich hatten wir schon früh bemerkt, dass unser Sohn pfiffig ist. Aber hochbegabt: Nein, da mochten wir gar nicht dran denken. Wir hatten im Grunde die gleichen Vorurteile gegen Eltern, die von ihren hochbegabten Kindern sprechen, wie andere Eltern, die davon nicht betroffen sind“, räumt sie ein.

Doch der Sohn verweigerte sich in der Schule immer mehr, weder Erziehungsberatung noch ambulante Therapie halfen. Er wurde zum Teil aggressiv, vor allem aber stark depressiv: Bis hin zum Zusammenbruch.

Bei der Diagnose geweint: Weil man dem Kind Unrecht getan hat

Der Sohn musste stationär in die Klinik, wo Tests eindeutig zeigten: Der Junge ist hochbegabt. Der die Begabtendiagnostik obligatorisch begleitende Test auf ADHS, eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung, verlief negativ. Nach Monaten, in denen der Sohn keine Schule mehr besucht hatte, ging dann alles recht schnell, vor allem dank Beratung durch die DGhK. Im Gesprächskreis erfuhr die Mutter, dass ihr Sohn in ein Internat wechseln kann, das mit Klassen von maximal 15 Kindern, strengen Regeln und extremer Einzelförderung optimal für ihn wäre.

Der Weg des Jungen ist extrem, aber keine Ausnahme, versichert Artmann. „Oft sind die Kinder erschöpft von der Unterforderung. Sie langweilen sich, müssen aber still sitzen. Sechs Stunden sich anpassen, ohne in ihrem Tempo zu lernen: Das führt häufig zur Komplettverweigerung“, erzählt Artmann.

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Eine andere Mutter erzählt, sie habe geweint, als sie kurz vor der Einschulung die Diagnose „Hochbegabung“ für ihre Tochter erfuhr. „Da wurde uns klar, wie viel Unrecht wir ihr getan haben. Auch in der Kita wurde sie immer negativ bewertet, weil sie nicht mit Gleichaltrigen spielen wollte. Aber das waren einfach keine Gesprächspartner für sie. Das war nur langweilig.“

Dass solche Langeweile körperliche Schmerzen bereiten kann, hat auch eine andere Mutter im Kreis bei ihrem Kind bemerkt. „Als meine Tochter „2 + 3“ rechnen sollte, was sie sich bereits in der Kita beigebracht hat, habe ich gesehen, welche Schmerzen solche Aufgaben in ihr auslösen. Und da helfen auch keine weiteren Zettel mit solchen Aufgaben als Förderung: Das heißt ja noch mehr Langeweile!“

Die meisten Eltern haben einen langen Leidensweg hinter sich

Lehrkräfte wissen häufig nicht, was hinter der Verweigerung steckt. Sie haben aber auch kaum Möglichkeiten, das zu ergründen. „Wenn Eltern zu mir in die Beratung kommen, haben sie meist schon einen langen Leidensweg hinter sich“, berichtet Artmann.

Doch in den allermeisten haben die Lehrkräfte mangels Personal und viel zu großen Klassen gar keine Chance, sich damit zu befassen. Mit den sogenannten Hochleistern, die sich selbst zu Leistungen anspornen können, auch ohne Förderung, gibt es weniger Probleme, wenn angemessen reagiert wird. „In einigen Grundschulen können Erstklässler etwa mit Mathe-Begabung den Unterricht in Klasse drei besuchen. Das kann helfen. Manchmal hilft auch springen“, erklärt Artmann den Müttern im Kreis. Doch auch das „Springen“ kann zum Problem werden, wenn es nicht durch Fachleute begleitet wird.

In ihrem Gesprächskreis für betroffene Eltern erfahren die besorgten Erziehungsberechtigten, dass es ihnen nicht allein so ergeht, andere die gleichen Erfahrungen machen: Das hilft. Gute Diagnostik-Angebote sind schwer zu finden, auch dabei hilft die DGhK.

Lehrkräfte haben in übervollen Klassen keine Möglichkeit, sich damit eingehend zu befassen, zu erkennen, was hinter dem Verhalten steht. „Das erfordert eine hohe Sensibilität, Beziehungsarbeit - und Zeit“, erklärt Artmann.

Hinweise gibt es oft schon im Kita-Alter

Dabei gibt es Hinweise auf die Sonderbegabung oft schon im Kita-Alter. „Wenn ein Kind mit vier Jahren schon Sprachwitze und Ironie versteht, dann kann das ein Zeichen sein. Kinder verstehen keine Ironie, das ist üblicherweise erst sieben, acht Jahren möglich. Wenn es solche Anzeichen gibt, kann es helfen, das Kind ein Jahr früher einzuschulen. Oder im späteren Verlauf kann es helfen, eine bestimmte Rechenart im Schulsystem zu überspringen, das Kind in Mathe schon eine Klasse höher zu unterrichten. Oder mitten im Schuljahr eins überspringen zu lassen“, nennt sie mögliche Wege, den Frust durch Herausforderungen zu brechen.

Hinweise auf mögliche Hochbegabung - ab einem IQ von 130 wird von Hochbegabung, ab 145 von Höchstbegabung gesprochen - nennt die DGHK auf ihrer Internetseite. Beispiele dort sind: Aufeinander aufbauende Fragen an Erwachsene auch zu komplexen, nicht altersgemäßen Themen, Fragen nach Ursprung und Sinn des Lebens und das Überspringen der Babysprache.

Der Gelsenkirchener Gesprächskreis trifft sich immer am vierten Dienstag eines Monats ab 19.30 Uhr im Gemeindehaus der Christuskirche in Erle, Bergstraße 9.
Das nächste Treffen findet dort am Dienstag, 23. April, statt. Anmeldungen dafür bitte per E-Mail an oeffentlichkeitsarbeit@dghk-rr.de