Gelsenkirchen.

Zurückhaltend soll er gewesen sein, in seiner Statur eher zartgliedrig und klein. Äußerlichkeiten, die so gar nicht zu dem Klischee eines NS-Verbrechers passen wollen, wie Dr. Alfred Meyer (1891-1945) einer war. Oder vielleicht gerade deshalb: Bekannt wurde er als Schreibtischtäter, der die Verfolgung und Vernichtung der Juden ganz sachlich und korrekt vom Pult aus umsetzte – ganz so, wie es die Wannsee-Konferenz vorsah, an der der Gelsenkirchener im Januar 1942 teilgenommen hatte.

Dass Meyer zum Stellvertreter des neuen Ostministeriums avancierte, war Zufällen zu verdanken, etwa den Kontakten zu Nazi-Größen wie dem Chef-Ideologen Alfred Rosenberg, so Dr. Holger Germann vom Institut für Stadtgeschichte. Hineingeboren wurde Meyer am 5. Oktober 1891 in ein bildungsbürgerliches Umfeld in Göttingen, sein Vater war königlich-preußischer Bau- und Regierungsrat kaiserlich-konservativer Prägung.

Wie der Vater, so der Sohn: Meyer meldete sich vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs an die Front, er wurde mehrfach für seine Tapferkeit ausgezeichnet. Die französische Kriegsgefangenschaft, in die er 1917 geriet und aus der er mit Hass auf den „französischen Erbfeind“ 1920 entlassen wurde, machte seine Karriereträume zunichte: „Es war zu spät, um noch als Offizier in die auf 100 000 Mann begrenzte Reichswehr aufgenommen zu werden“, so Germann.

Also schwenkte Meyer auf ein Studium der Rechts- und Staatswissenschaften um, das er 1922 mit einer Promotion abschloss. Doch erneut musste er sich bescheiden und mit einer nachrangigen Verwaltungstätigkeit auf der Gelsenkirchener Zeche Graf Bismarck zufrieden geben, denn Meyer war kein Volljurist. In der aufstrebenden Arbeiterstadt startete er dafür seine politische Karriere. Nach dem Eintritt in die NSDAP im April 1928 wurde er 1929 deren einziger Stadtverordneter im Rat und 1930 gar Abgeordneter des Reichstags, wo er auch Rosenberg näher kennenlernte.

Von nun an ging es für den Parteifunktionär bergauf: 1931 wurde er Gauleiter von Westfalen-Nord, nach der Machtergreifung 1933 Reichsstatthalter von Lippe und Schaumburg-Lippe, 1938 Oberpräsident der Provinz Westfalen.

Seine Stadtverordneten-Kollegen im Rat nordete er gleich bei der ersten Sitzung nach den nicht mehr freien Kommunalwahlen vom März 1933 ein auf die Gleichschaltung, wie ISG-Historiker Germann betont. „Die Rettung der Stadt kann nur zugleich mit der Rettung von Reich und Staat erfolgen“, wird Meyer im Protokoll der Sitzung zitiert. Und: Hitlers Kabinett habe „in einer Revolution beispielloser Disziplin die Grundlagen für die Rettung von Volk und Nation“ gelegt und dabei den „Klassenkampf und Standesdünkel, Parlamentarismus, Demokratie“ und „Bolschewismus“ niedergezwungen.

Als im Juni 1941 im Zuge des Angriffs auf die Sowjetunion das Ostministerium geschaffen wurde, ernannte ihn dessen Chef Rosenberg zum Stellvertreter. In dieser Funktion tat er sich auch bei der „Wannsee-Konferenz“ 1942 als Verfechter der „Ausrottung der Juden“ (nicht nur) in den Ostgebieten hervor, wobei er bei der Umsetzung von Deportation, Zwangsarbeit und „Vernichtung“ Wert darauf legte, den Begriff Jude „nicht zu eng“ zu definieren.

Insofern stand er nicht zufällig auf der Alliierten-Liste gesuchter Kriegsverbrecher. Lebend entdeckt wurde er jedoch nicht. Im April 1945 beging Alfred Meyer im Alter von 53 Jahren Selbstmord.