Gelsenkirchen. 100 Zuhörer sind an der NS-Dokumentationsstätte in Gelsenkirchen zu Gast, um Antworten über den Aufstieg der Nazis zu bekommen.

Die Diktatur der Nationalsozialisten beendet mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler durch Reichspräsident Hindenburg am 30. Januar 1933 auch das demokratische Leben in Gelsenkirchen. Mit ihrem Griff zur Macht höhlen die Nazis innerhalb von wenigen Monaten den Rechts- und Verfassungsstaat mit Terror und Gewalt aus. In dem Vortrag „Wie die Nationalsozialisten in Gelsenkirchen an die Macht kamen“ blickte Dr. Daniel Schmidt, Leiter des Instituts für Stadtgeschichte (ISG), in die Anfänge der NS-Diktatur zurück.

Wie sehr die Vergangenheit die Menschen auch heute noch interessiert und bewegt, war an der Resonanz zu spüren. Fast 100 Interessierte waren in der NS-Dokumentationsstätte an der Cranger Straße erschienen, Antworten über den Aufstieg der Nazis auch in Gelsenkirchen zu bekommen.

Kommunalwahlen 1933 in Gelsenkirchen: Nazis erobern 31 von 71 Mandaten

„Im Sommer 1933 ist die Stadtverordneten-Versammlung komplett in Nazi-Hand, die kommunale Selbstverwaltung ist abgeschafft“, sagte Dr. Daniel Schmidt, Leiter des Instituts für Stadtgeschichte. Hakenkreuzfahnen wehen an Rathäusern und öffentlichen Gebäuden. SA und Schutzpolizei vor dem Hans-Sachs-Haus am 21. März 1933, dem „Tag von Potsdam“.
„Im Sommer 1933 ist die Stadtverordneten-Versammlung komplett in Nazi-Hand, die kommunale Selbstverwaltung ist abgeschafft“, sagte Dr. Daniel Schmidt, Leiter des Instituts für Stadtgeschichte. Hakenkreuzfahnen wehen an Rathäusern und öffentlichen Gebäuden. SA und Schutzpolizei vor dem Hans-Sachs-Haus am 21. März 1933, dem „Tag von Potsdam“. © Institut für Stadtgeschichte

Dem Aufstieg der Nazis ging der Untergang der Weimarer Republik in den Jahren 1930 bis 1932 voraus. Reichskanzler Franz von Papen, der Heinrich Brüning ablöste, habe das Versprechen gegeben, Hitler zu kontrollieren, erläutert der Historiker das Ende der Weimarer Republik. Doch die Rechnung geht nicht auf. Zwei Nazis sitzen im Kabinett, Hermann Göring wird Innenminister. Die Nazis setzen durch, dass nach den Novemberwahlen 1932 im März 1933 noch einmal gewählt wird.

Auch in Gelsenkirchen werden die Bewohner zur Kommunalwahl am 12. März 1933 aufgerufen. Bisher ist mit Dr. Alfred Meyer lediglich ein Nationalsozialist im alten Stadtparlament vertreten. Die Stadt Gelsenkirchen, so Schmidt, sei besonders hart gebeutelt gewesen, mehr als ein Drittel der Menschen ist arbeitslos. Die KPD gilt als stärkste Bastion.

Doch der Aktivismus und die Machtdemonstration der NSDAP führen schließlich zum Erfolg. Die Nazis verbieten Veranstaltungen, Plakate mussten entfernt werden, Zeitungen der KPD wie auch der SPD dürfen nicht mehr erscheinen. Nach der Wahl haben die Nazis von 71 Mandaten 31 erobert. Mit dem Ermächtigungsgesetz, das die Nazis am 23. März 1933 erlassen, sind die Grundrechte endgültig aufgehoben.

Oberbürgermeister Emil Zimmermann tritt zurück, als er das Wahlergebnis sieht. Beigeordnete müssen gehen, werden von den Nazis verhöhnt. Doch ein Großteil bleibt auch im Amt, scheint sich mit den neuen Machthabern zu arrangieren. Finanzdezernent Dr. Wilhelm Schumacher biedere sich nach Einschätzung Schmidts den Nazis an, strebe das Amt des Oberbürgermeisters an. Er wird schließlich 2. Bürgermeister. Jetzt bricht eine neue Zeitepoche an, verkündet er.

Carl Böhmer wird OB in Gelsenkirchen – SA belegt das berüchtigte Zimmer 71

Der Einzug der neuen NSDAP-Fraktion ins Rathaus Buer anlässlich der konstituierenden Sitzung der Stadtverordnetenversammlung am 6. April 1933.
Der Einzug der neuen NSDAP-Fraktion ins Rathaus Buer anlässlich der konstituierenden Sitzung der Stadtverordnetenversammlung am 6. April 1933. © Foto: Institut für Stadtgeschichte Gelsenkirchen

Bei der Konstituierung der Stadtverordnetenversammlung am 6. April zieht die Fraktion der NSDAP uniformiert ins Rathaus ein. NSDAP-Mann Carl Böhmer, der zunächst als Staatskommissar eingesetzt war, wird Oberbürgermeister. Er behält den Posten bis 1945. Er soll an der Zerstörung der Gelsenkirchener Synagoge beteiligt gewesen sein. Gauleiter Meyer, ein Vertrauter Böhmers, teilt dem Rat die zukünftige politische Linie mit. Man werde nationale Würdelosigkeit nicht dulden, verkündet er, und die Hilfspolizei werde der Opposition den guten Ton beibringen.

Was die Nazis unter gutem Ton verstehen, zeigt sich schnell. Schlägertrupps der SA und der SS wüten in der Stadt, terrorisieren die Bürger, verbreiten Angst, sorgen für Unsicherheit in der Bevölkerung. Der Blick in die Geschichte zeige, dass die Trupps der Nazis praktisch Polizeigewalt ausübten, meint Daniel Schmidt. SA, SS und Gestapo konnten verhaften und einsperren, wen sie wollten. Im berüchtigten Zimmer 71 im Rathaus Buer sieht die SA ihr Zimmer der Exekutive, foltert viele Widerständler. Von einer Verhaftungswelle sind insbesondere Kommunisten betroffen, SPD-Männer gehen ins Exil, einige werden zu Tode gefoltert.

Der Terror nimmt weiter zu. Arbeiter und Juden sehen die neuen Machthaber als ihre Hauptgegner. In den nächsten zwölf Jahren werden auch Stadtverordnete aus Gelsenkirchen von den Nazis ermordet. Gewalt, Folterungen, Drohungen, Mord und Angst in der Bevölkerung haben dazu geführt, dass die Nazis noch schneller als erwartet, ihr politisches Ziel erreichen. Schmidt: „Im Sommer 1933 ist die Stadtverordneten-Versammlung komplett in Nazi-Hand, die kommunale Selbstverwaltung ist abgeschafft,“ Hakenkreuzfahnen wehen an Rathäusern und öffentlichen Gebäuden.

Historiker: Alt-Nazis von Stadt Gelsenkirchen bis in 1960er- und 1970er-Jahre eingestellt

Die Hakenkreuzfahne wird über dem Polizeiamt in Gelsenkirchen im März 1933 gehisst.
Die Hakenkreuzfahne wird über dem Polizeiamt in Gelsenkirchen im März 1933 gehisst. © Foto: Institut für Stadtgeschichte

Zügig haben die Nazis ihre Posten auch an Gerichten und bei der Polizei besetzt und die „Systembonzen“, wie sie die bisherigen Amtsträger nennen, entfernt. Die Nazis drohen den neuen Amtsinhabern mit dem klassischen „Berufsbeamtengesetz“ des NS-Staates. Wer nicht funktionierte, konnte ohne Pensionsansprüche vor die Tür gesetzt werden.

Volkshaus Rotthausen als Führerschule der Nazis

Während der Terror-Herrschaft der Nationalsozialisten ist auch auf den Straßen die von Gewalt geprägte Politik der NSDAP zu spüren. Bürgerrechte sind zunächst eingeschränkt, existieren schließlich nicht mehr. Die deutsch-nationale Opposition wird ausgeschaltet. Die SS wird zum zentralen Machtinstrument des Staates.

Im Volkshaus Rotthausen richten die Nazis ihre Führerschule ein. Sieben Prozent der städtischen Beamten werden aus politischen Gründen entlassen. Von den Führungskräften verlieren 50 Prozent ihren Job. Für jüdische Bürger werden Sportanlagen gesperrt. In Erle werden 50 Menschen gefoltert. 1947 erlassen Gerichte Haftstrafen gegen die Folterer.

Die Propaganda der Nazis ist in allen städtischen Straßen zu spüren, Aufmärsche, Fahnen schwenkende Parteisoldaten, Feuer und Heldenverehrungen wechseln sich ab. Das Schulkollegium des Schalker Gymnasiums will sich zukünftig Adolf-Hitler-Gymnasium nennen, Straßen werden in Namen von Nazigrößen umbenannt, 1934 wird Hitler die Ehrenbürgerschaft verliehen.

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Auch an Universitäten verhalten sich Studierende wie auch Hochschullehrer nicht feindselig gegenüber der Nazi-Ideologie. „Der Widerstand“, sagt Historiker Schmidt, „hält sich in Grenzen.“ Zu groß ist die Angst, nicht zu überleben. Wer gefasst wird, muss Folter oder Tod befürchten. Auch materielle Existenznöte, hohe Arbeitslosigkeit lässt viele Bürger resignieren. Auch in der Industrie ist kaum Widerstand zu spüren. „Die sind erst aufgesprungen, nachdem die Nazis an die Macht gekommen waren“, sagt Daniel Schmidt.

Die Befreiung vom Nazi-Terror erfolgt zwar mit Kriegsende, doch Nachwehen der Schreckensjahre spüren Gelsenkirchener Bürgerinnen und Bürger noch lange nach 1945. „Bis in die 1960er- und 1970er-Jahre“, weiß Schmidt, „wurden viele Altnazis noch von der Stadt eingestellt.“