Gelsenkirchen. „System kann nicht gewünscht sein“: OB Karin Welge zeigt Innenministerin Nancy Faeser auf, wie sie die Armutsmigration aus EU-Ost stoppen könnte.
- Gelsenkirchen ist seit Jahren besonders von „Armutsmigration“ aus Südosteuropa betroffen. Nach Diagnose der Stadt liegt das daran, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit in der Praxis vielmehr eine „Sozialleistungsfreizügigkeit“ sei.
- In einem Schreiben an Innenministerin Nancy Faeser macht Oberbürgermeisterin Karin Welge konkrete Gesetzesvorschläge, wie die Situation endlich verbessert werden könnte.
- Im Kern geht es dabei darum, dass EU-Bürger erst einmal eine existenzsichernde Beschäftigung nachweisen müssen, bevor sie den Arbeitnehmerstatus erhalten. Auch wünscht sich die Stadt mehr Sanktionsmöglichkeiten.
Im Jahr der Europawahl stehen Themen wie die Sicherheitsarchitektur der EU oder die Reduzierung der Flüchtlingszahlen im Mittelpunkt. Aber aus Gelsenkirchener Perspektive dürfte europapolitisch vor allem eine Frage entscheidend sein: Wie können die Fehler behoben werden, die vor zehn Jahren bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit für Rumänien und Bulgarien gemacht wurden? An konkreten Vorschlägen aus Gelsenkirchen mangelt es jedenfalls nicht, wie aus einem bereits vor Monaten versandten Brief aus dem Hans-Sachs-Haus an Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hervorgeht, welcher der WAZ jetzt vorliegt. Darin fordert OB Karin Welge (ebenfalls SPD), die „Ausnutzung“ und die „Aushöhlung“ der Arbeitnehmerfreizügigkeit zu beenden.
„Das aktuelle System kann nicht gewünscht sein“: OB Welge zeigt Innenministerin Nancy Faeser auf, wie sie die Armutsmigration aus EU-Ost stoppen könnte,
Arbeitnehmerfreizügigkeit? Stadt Gelsenkirchen spricht eher von „Sozialleistungsfreizügigkeit“
Die Stadt Gelsenkirchen sehe sich seit Jahren einem kontinuierlichen Zuzug von Rumänen und Bulgaren und deren Familienangehörigen ausgesetzt, „welche sich auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit berufen, ohne einer tatsächlichen und ernsthaften Beschäftigung nachzugehen“, wird in dem Schreiben festgestellt. Der Lebensunterhalt dieser Familien werde weit überwiegend aus öffentlichen Leistungen wie Bürgergeld sichergestellt. In der Konsequenz zeige sich, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit in der Praxis vielmehr eine „Sozialleistungsfreizügigkeit“ sei. Kommunen wie Gelsenkirchen hätten jedoch keine Möglichkeit, diese wirksam zu unterbinden.
Das Ausländeramt Gelsenkirchen sei zwar mittlerweile „rigoros“, wenn es um die Verlustfeststellung der Arbeitnehmerfreizügigkeit geht – man zeige dort also eine gewisse Härte bei der Prüfung, ob überhaupt Voraussetzungen für eine Arbeitnehmerfreizügigkeit bei Rumänen und Bulgaren bestehen. Allerdings existiere aufgrund der fehlenden Sanktionsmöglichkeiten bei ausbleibender Ausreise oder erfolgter Abschiebung und anschließender Rückkehr ins Bundesgebiet „keine nachhaltige Option, das Sozialhilfesystem der Stadt zu entlasten“, stellt Welge fest.
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Die altbekannte Folge für die Stadt Gelsenkirchen: Armutszuwanderung, Integrationsherausforderungen, weiter steigende Arbeitslosigkeit und Kinderarmut sowie Konflikte in der Nachbarschaft. „Das aktuelle System kann daher weder auf Bundesebene noch auf europäischer Ebene gewünscht sein“, konstatiert Welge. Demnach sollte man die Anforderungen für EU-Arbeitnehmer nach Gelsenkirchener Vorstellung viel mehr an das deutsche Aufenthaltsgesetz anpassen. Dort nämlich wird die Sicherung des eigenen Lebensunterhalts ersteinmal vorausgesetzt, bevor ein Aufenthaltsrecht infragekommt – es sei denn, jemand reist aus humanitären Gründen ein.
Eine solche Regelung würde aus Sicht der Stadt auch mit Blick auf EU-Bürger Sinn machen, insbesondere bei jenen aus Südosteuropa. Denn bei ihnen handele es sich häufig um „Großfamilien, die ihren Lebensunterhalt über die geringfügige Beschäftigung (meist Tätigkeiten als ungelehrte Kraft wie Zeitungszusteller oder Paketfahrer) eines einzelnen Familienmitglieds sichern wollen“, heißt es in dem Schreiben an Faeser.
Stadt Gelsenkirchen fordert mehr Sanktionen bei Wiedereinreise
Im Rahmen eines Pressegesprächs zum Thema Arbeitnehmerfreizügigkeit konkretisiert OB Welge ihren Vorschlag: „Wenn jemand aus einem anderen europäischen Land zu uns kommt, warum korreliert mit der Anmeldung eines Wohnsitzes in Deutschland vom ersten Tag an das Recht auf die Sozialversorgung? Aus meiner Sicht müssten wir auch über den Begriff des Arbeitnehmers reden, der der Arbeitnehmerfreizügigkeit zugrunde liegt. Warum ist nicht geregelt: Jemand muss erst mal 24 oder 36 Monate für seinen Lebensunterhalt selbst sorgen und damit belegen, dass er richtiger Arbeitnehmer ist? Die Arbeitnehmereigenschaft knüpft aktuell daran an, dass ich gesundheitlich in der Lage bin, drei Stunden zu arbeiten. Mehr gibt es als Grundvoraussetzung nicht. Das muss geändert werden.“
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„Es darf nicht wie heute sein, dass 250-Euro-Jobs aufgestockt werden, teilweise krude Beschäftigungen beim eigenen Vermieter angenommen werden, um den Arbeitnehmerstatus aufrechtzuerhalten“, ergänzt Hans-Joachim Olbering, Chef für den Bereich Ordnung bei der Stadt Gelsenkirchen.
Gelsenkirchen pocht auch auf EU-Regeln zum Kindergeld
In Ihrem Schreiben an den Bund schlägt OB Welge auch vor, dass sich das Bundesinnenministerium für mehr gesetzliche Sanktionsmöglichkeiten einsetzt und EU-Richtlinien entsprechend in nationale Gesetzgebung umsetzt. Die Stadt Gelsenkirchen habe in der Vergangenheit bereits versucht, Einreise- und Aufenthaltssperren für EU-Bürger auszusprechen, sei jedoch auf dem Rechtsweg gescheitert, heißt es. Hier müsse es Rechtssicherheit geben.
Darüber hinaus gibt es aus Gelsenkirchen weitere Verbesserungsvorschläge, die in dem Schreiben nicht thematisiert werden. „Wir fordern auch, dass sich im Bereich des Kindergeldes etwas tut“, sagt Olbering. „Es kann gerne das volle Kindergeld gezahlt werden, wenn eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung vorliegt. Aber wo es so eine Beschäftigung nicht gibt, muss man darüber nachdenken, Kindergeld nur auf dem Niveau des Herkunftslandes auszuzahlen.“ In Rumänien und Bulgarien wird nur ein Bruchteil des Kindergeldes gezahlt, das Familien in Deutschland erhalten, weshalb schon oft über das Kindergeld als Magnet für die EU-Binnenmigration gestritten wurde.
Kommunen stehen in der politischen Entscheidungsfindung oft am Ende der Nahrungskette. Dass das Pochen auf Gesetzesänderungen gerade für sie mühselig ist, aber langfristig auch Wirkung haben kann, macht Olbering mit einem Rückblick deutlich: „Wir haben bereits 2016 ein ganzes Paket mit notwendigen Rechtsänderungen auf den Weg gebracht. Eine Sache hat sich Mitte 2021 getan – und zwar in der Bauordnung.“ So sei es mittlerweile möglich, eine sogenannte Bauabbruchsverfügung durchzusetzen. „Bei Gebäuden, die so abgängig sind, dass sie nicht renoviert werden können, ist es damit einfacher geworden, den Abbruch zu fordern, mit der Folge kostenerstattungspflichtiger Ersatzvornahmen.“ Dies ermögliche, effektiver gegen leerstehende Schrottimmobilien vorzugehen – die für die Migration aus Südosteuropa bekanntlich eine große Sogwirkung haben.