Gelsenkirchen. Eine Mutter wird in einer Gelsenkirchener Psychiatrie behandelt - und von der Familie getrennt. Die Tochter stürzt sich in einen Kampf.
Nein, alles richtig gemacht hat Tamara Tamoevas Familie sicher nicht. Als die armenischen Jesiden vor fast einem Jahrzehnt nach Deutschland kamen, da gaben sie sich zunächst als Syrer aus. Die Schleuser hätten es ihnen damals empfohlen, erzählt die heute 19-Jährige – um eine Chance auf die Anerkennung ihres Asylantrags zu haben. Irgendwann kam die Wahrheit ans Licht, das Etikett der „Identitätstäuscher“ klebt seitdem an ihnen. „Nur ist das ein Grund, uns so zu behandeln?“, fragt Tamoeva. Auch Menschenrechtsaktivisten sprechen beim Umgang mit der Familie von einem „Skandal“, von einem „Tabubruch.“
Denn Tamara Tamoevas Mutter befindet sich aufgrund ihrer schweren psychischen Erkrankungen zum wiederholten Male in stationärer Behandlung in einem Gelsenkirchener Krankenhaus. Der WAZ liegen mehrere ärztliche Schreiben vor, sie zeichnen das Bild einer Frau, mit der höchst sensibel umzugehen ist, um keine Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes zu riskieren. Bei der Patientin bestehe „akute Suizidalität“, sollte sie von ihrer Familie getrennt werden, heißt es.
Stadt Gelsenkirchen: Krankenhausaufenthalt schließt Abschiebung nicht aus
Diese Feststellungen hinderten die Behörden jedoch nicht daran, Tamara Tamoevas jüngere Brüder (9, 14) und ihren Vater nach Armenien abzuschieben, ein Land, das der neunjährige Bruder nie zuvor gesehen hat. „Meine Brüder wurden aus ihrem Leben gerissen“, sagt die große Schwester, die als einziges Familienmitglied eine Aufenthaltserlaubnis zu Erwerbszwecken in Deutschland bekommen hat und derzeit eine Ausbildung zur Rechtsanwaltsgehilfin macht. „Besonders meinem jüngsten Bruder geht es jetzt natürlich sehr schlecht, er hat eine sehr feste Bindung zu unserer Mutter“, erzählt sie.
Offenbar hat es darüber hinaus Versuche gegeben, Tamoevas Mutter während laufender Behandlung in der Psychiatrie abzuschieben: In einem ärztlichen Attest erteilt die Klinik ein Hausverbot „für externe Personen“, die „zum Zwecke der Abschiebung in der Klinik erscheinen“. Wie bindend ein Hausverbot in dieser Form ist, ist schwer zu sagen, zu einem weiteren Abschiebeversuch ist es seitdem allerdings nicht gekommen. Beantworten kann die Ausländerbehörde auf Nachfrage nicht, zu welchen Vorfällen in der Klinik es in der Vergangenheit bereits gekommen war, weil sie sich aus Datenschutzgründen nicht zu Einzelfällen äußert. Wohl aber betont man dort: „Eine stationäre Behandlung eines Familienmitgliedes schließt grundsätzlich die Durchsetzung der Ausreisepflicht nicht aus.“
Mit Blick auf Armenien steht die Ausreisepflicht in der Regel fast immer am Ende eines Asylverfahrens. Die Innenministerkonferenz hat sich zuletzt dafür ausgesprochen, Armenien auch als sicheres Herkunftsländer einzustufen. Das Bundesaußenministerium hat aktuelle eine Teilreisewarnung für den Staat ausgesprochen, Hintergrund ist der Konflikt mit Aserbaidschan um die Region Bergkarabach.
Abschiebung nach Armenien: Menschenrechtler sprechen von einem Skandal
Der Kölner Verein „Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.“, der mit seinem „Abschiebungsreporting“ heikle Rückführungen im Bundesland dokumentieren will und von Förderern wie der Caritas oder der Diakonie unterstützt wird, wertet die Abschiebung dennoch insgesamt als höchst problematisch. „Familientrennungen von Familien mit minderjährigen Kindern müssen ein absolutes Tabu sein. Es ist skandalös, dass die Gelsenkirchener Ausländerbehörde die Abschiebung einer Familie plant, obwohl sie genau weiß, dass ein Elternteil seit Wochen stationär in einer Psychiatrie behandelt wird“, teilt Sebastian Rose vom Komitee mit und fordert die „sofortige Wiedereinreise“ des Ehemanns und der beiden Kinder. „Selbst wenn die Familie einen Fehler gemacht hat: Sie ist längst Teil der Gesellschaft geworden.“ Wohlgemerkt wurde ihr das nicht leicht gemacht, dem Vater etwa wurden aufgrund der fehlenden Aufenthaltserlaubnis Beschäftigungen untersagt, für die er schon Arbeitsverträge unterschrieben hatte.
Das Kindeswohl müsse bei allen behördlichen Maßnahmen Vorrang haben, meint Sebastian Rose zudem. Dies werde in Gelsenkirchen jedoch nicht hinreichend berücksichtigt, sagt er und erinnert an einen anderen „besonders krassen Fall“ von Familientrennung im vergangenen Jahr, bei der die Ausländerbehörde eine sechsköpfige Familie getrennt hatte, indem der Vater nach Nigeria abgeschoben wurde. Auch die WAZ berichtete damals umfassend.
Wie schon bei der nigerianischen Familie ist auch die Situation der armenischen Familie mittlerweile zu einem Fall für die Justiz geworden: Die Anwältin der Jesiden hat nun einen Antrag auf Rückholung der Familie gestellt sowie einen vorläufigen Abschiebeschutz der Mutter beantragt, damit nicht nach einer eventuellen Beendigung ihres stationären Aufenthalts direkt die Beamten vor der Flüchtlingsunterkunft stehen. Dort übrigens wohnte die Familie bis zu ihrer Abschiebung, nachdem sie nach einiger Zeit in Frankreich einen Asylfolgeantrag in Deutschland gestellt hatte.
Das sagt die Ausländerbehörde Gelsenkirchen zur umstrittenen Abschiebung
In Frankreich versuchte die Familie bei Bekannten unterzukommen, nachdem es im Sommer 2022 bereits einen Abschiebeversuch aus ihrer gemeinsamen Wohnung in Gelsenkirchen gegeben hatte. Damals kam es zu einem großen und langwierigen SEK-Einsatz, der die damals schon psychisch labile Mutter weiter traumatisierte, wie dem Arztbericht zu entnehmen ist. Bilder und Fotos von dem Einsatz liegen der WAZ vor. Als ihre Mutter unter Druck gesetzt wurde, „griff sie zu einem Messer und verletzte sich am Handgelenk, um sich selbst Schaden zuzufügen“, schreibt Tamara Tamoeva in Erinnerung an den Einsatz an den Petitionsausschuss NRW, der sich nun ebenfalls mit der Lage der Familie befasst.
Der dritte, 17-jährige Sohn der Familie, der laut seiner Schwester in Gelsenkirchen eine Maler-Ausbildung begonnen hat (die er aufgrund fehlender Arbeitserlaubnis habe abbrechen müssen) und dem Wehrdienst in Armenien entkommen möchte, ist seit dem Abschiebeversuch verschwunden, auch Tamara Tamoeva weiß nicht, wo er sich aufhält. All diese Umstände dürften nicht dazu beigetragen haben, dass die Familie gute Karten bei den Ämtern hat. Eine Rechtfertigung für die „ungemein belastende Familientrennung“ trotz stationären Aufenthalts der Mutter sei dies aber alles nicht, bekräftigt man beim „Abschiebungsreporting.“
Die Stadt Gelsenkirchen äußert sich aus den genannten Datenschutzgründen nur allgemein zu dem Fall, spricht davon, dass „Abschiebungen in aller Regel mit hohen emotionalen Belastungen für alle Beteiligten verbunden sind“. Dies gelte umso mehr, wenn Familien von Abschiebemaßnahmen betroffen sind. „Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund prüft die Ausländerbehörde Gelsenkirchen vor jeder zwangsweisen Durchsetzung der Ausreisepflicht zunächst die vielfältigen Möglichkeiten der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis und nutzt dabei mögliche Ermessensspielräume sachgerecht aus“, heißt es seitens der Verwaltung.
Dass tatsächlich alle Spielräume ausgenutzt sind, bezweifelt Tamara Tamoeva. „Ich werde weiterkämpfen, so lange, bis meine Familie wieder vereint in Deutschland ist“; sagt sie. „Denn sie gehören hierhin.“
Lesen Sie dazu auch den Kommentar von WAZ-Redakteur Gordon Wüllner-Adomako.