Gelsenkirchen. In Gelsenkirchen wird eine Familie abgeschoben, obwohl die Mutter in Behandlung ist. Irrsinnig ist der Vorgang nicht nur deshalb.

Abschiebungen sind oft mit grässlichen Szenen verbunden. Und wenn Kinder involviert sind, sind psychische Narben bei ihnen kaum zu verhindern. Darüber ausgewogen zu berichten, ist für Journalisten schwierig, weil die emotionalen Schilderungen der Betroffenen dem logischen Grundsatz entgegenstehen, dass rote Linien für das Funktionieren des Asylsystems als Ganzes unabdingbar sind, im Einzelfall also harte Entscheidungen getroffen werden müssen.

Schwierig ist es aber auch, weil die persönlichen Berichte nicht mit Darstellungen der abschiebenden Behörden abgeglichen werden können – über Einzelfälle sagen die Ämter aus Datenschutzgründen nichts. Was also ist die Wahrheit? Lief eine Abschiebung tatsächlich unverhältnismäßig ab?

Abschiebung nach zehn verändernden Jahren ist ein Irrsinn

Im jüngsten Fall aus Gelsenkirchen rund um die Familie von Armenierin Tamara Tamoeva kann einem Fakt jedenfalls nicht widersprochen werden: Hier wurden Kinder von ihrer Mutter getrennt, während sich diese in psychiatrischer Behandlung in einem Krankenhaus befunden hat. Und das, obwohl ihr von Fachärzten eine erhöhte Selbstmordgefahr durch die Rückführung ihrer Kinder attestiert wird. Sich so über ärztliche Diagnosen hinwegzusetzen, geht zu weit. Selbst wenn es tatsächlich keine Möglichkeit mehr gegeben hätte, auf die Abschiebung zu verzichten, hätte es ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt sein müssen?

„Von dieser Migrationspolitik profitiert keiner“, sagt WAZ-Redakteur Gordon Wüllner-Adomako.
„Von dieser Migrationspolitik profitiert keiner“, sagt WAZ-Redakteur Gordon Wüllner-Adomako. © WAZ | gowe

Diesen Umstand mag man bereits als skandalträchtig einstufen, haarsträubend ist noch ein weiterer Faktor: Hier wird eine Familie nach fast zehn Jahren abgeschoben, in ein Land, das für die Kinder größtenteils völlig fremd ist. Nach zehn Jahren! Jahre, in denen die Familie gezwungenermaßen in einer Art Zwischengesellschaft verhaftet war. Zwischen der Heimat, aus der sie geflohen ist, und der Gesellschaft, in die sie will, aber nicht richtig darf, weil ihr allen voran die Arbeitserlaubnis nicht erteilt wird.

Ja, es liegt in der Natur des Asylsystems, dass es Grenzen haben muss. Nur dann muss das System auch funktionieren. Und es funktioniert ganz sicher nicht, wenn es zehn alles im Leben verändernde Jahre braucht, um Menschen abzuschieben. Wer gewinnt durch eine Abschiebung, die am Ende eines solchen Jahrzehnts der Unsicherheit steht? Die deutsche Gesellschaft? Der von schwindenden Arbeitskräften geplagte deutsche Staat? Wohl kaum.

Abschiebung nach einem Jahrzehnt: Bei dieser Asylpolitik gewinnt niemand

Statt diesen Menschen zu ermöglichen, Teil der Gesellschaft zu werden, verursacht man durch das Arbeitsverbot weitere Kosten. Wenn Menschen nach einer so langen Zeit abgeschoben werden, hier aber groß geworden sind, den Großteil ihrer Schullaufbahn hier erlebt haben und eine Ausbildung beginnen (wollen), dann sind das verlorene Integrationsleistungen, dann gewinnt wirklich niemand.

Die Ampel hat mit Gesetzen wie dem „Chancenaufenthaltsrecht“ Menschen, die keinen Schutz bekommen haben, aber trotzdem lange geduldet sind, die Möglichkeit gegeben, sich ein langfristiges Aufenthaltsrecht zu sichern. Doch wenn Familien wie die von Tamara Tamoeva weiter aus dem Raster fallen, dann stimmt mit dieser Migrationspolitik noch einiges gehörig nicht. Dann sind mit ihr nicht nur dramatische Szenen und verletzte Kinderseelen verbunden, dann macht sie gesellschaftspolitisch einfach keinen Sinn.

Mehr über die umstrittene Abschiebung aus Gelsenkirchen lesen Sie hier: „Skandal“-Trennung? Mutter in Klinik – Kinder abgeschoben.