Gelsenkirchen. Die Herausforderungen, vor denen Lehrer und Sozialpädagogen immer häufiger stehen, sind immens. Ein Tag in einer Gelsenkirchener Grundschule.
6.55 Uhr: Vor der Eingangstür am Standort Caubstraße warten die ersten Kinder der Grundschule Kurt-Schumacher-Straße. Um sieben Uhr wird die Tür geöffnet, ab 7.15 gibt es Frühstück. Die ehrenamtlichen guten Seelen vom Projekt „Brotzeit“ richten schon das kleine Buffet mit Brot, Milch, Cornflakes, Apfelsaft, Joghurt, Käse und Wurst ein. Manche Kinder kommen so früh, um gemeinsam mit anderen frühstücken zu können. Andere, weil sie sonst hungrig in den Unterricht müssten. Luisa frühstückt gern hier mit Klassenkameraden und mit ihrer großen Schwester aus der dritten Klasse.
7.45 Uhr: Vor der Tür stehen Mütter und Väter, viele mit Kinderwagen neben ihrem Schulkind. Das Frühstück muss jetzt abgeräumt werden. Um 7.50 Uhr kommt Bewegung ins Haus, die ersten gehen in ihre Klassen. Eltern bleiben draußen, trotz heftigen Protests eines kleinen Jungen.
8 Uhr: Unterrichtsbeginn für die Klasse 1a, die Pinguinklasse. Eigentlich – aber noch sind nicht alle da. Das ist offenbar nicht ungewöhnlich, Lehrerin Lisa Ludwig (27 Jahre, seit Mai fertige Grundschullehrerin) begrüßt alle herzlich und fragt nach den gelben „Postmappen“, um zu sehen, wer die erbetene Fotoerlaubnis für den Zeitungsbericht unterschrieben dabei hat. Es sind erfreulich viele. Nur fünf Mappen fehlen. Im Hintergrund läuft leise Musik, zum Schluss singt der Dschungelbuch-Bär Balu: „Versuch’s mal, mit Gemütlichkeit...“ Nebenan ziehen sich die Letzten die Hausschuhe an.
Die Lehrerin spricht extrem akzentuiert, damit möglichst viele sie verstehen
8.07 Uhr: Alle Kinder sind am Platz, Lisa Ludwig lässt ihre kleine Klangschale das Signal aussenden: Ab jetzt ist Ruhe angesagt. Zwei große Mädchen sitzen mit am Tisch, Viertklässlerinnen. Ihre Klassenlehrerin ist krank, eine von vier Krankheitsausfällen heute. Vertretungskapazitäten gibt es nicht, deshalb werden die Kinder auf andere Klassen verteilt und mit altersgerechten Arbeitsblättern versorgt.
„Heute habt ihr zum ersten Mal vier Stunden. Und wir fangen etwas Neues an, eine Piratenstunde. Frau Gurrera hilft uns dabei“, erklärt die Klassenlehrerin. Sie spricht extrem akzentuiert, damit möglichst viele sie verstehen.
- Dieser Text ist Teil des Online-Dossiers „Bildungskatastrophe: So steht es um unser Schulsystem“ der WAZ Gelsenkirchen. Alle Analysen, Berichte und Reportagen zum Thema finden Sie hier!
8.15 Uhr: In der Bankecke hinten in der Klasse umringt die Klasse die Sozialpädagogin Laura Gurrera, Kollegin Ludwig hält sich im Hintergrund.
(Die Piratenstunde samt Übungsbuch ist aus einem von dieser Schule mitentwickelten Projekt entstanden. Es soll gezielt Kinder mit fehlenden Basiskompetenzen – Stift halten, gerade Linie ziehen, schneiden – helfen. Eigentlich in der Kleingruppe, siehe „Wie das Piratenheft Grundlagen nachholen hilft“)
8.20 Uhr: Nach der Vorstellungsrunde nach dem Muster „Ich heiße Yakup Emir, wie heißt du?“, dem nicht alle sofort folgen können, wird gespielt. Es gilt, Holztörchen umzuwerfen mit einem zwischen den Kindern hin und her gerollten Ball. Nicht alle haben das sofort verstanden, trotz Erklärung in einfachen Worten und mit klaren Gesten. Aber alle sind ganz bei der Sache. Das Durchzählen funktioniert gut, erst alle gemeinsam, dann einzeln. Bis 14 schaffen es die meisten fehlerfrei. Das Maskottchen der Pinguinklasse, Pinguin Piet, zählt mit. Mittlerweile ist auch die Schatzkarte des Piraten Piru entfaltet, die Besonderheiten der drei Inseln sind entdeckt. „Was ist hier versteckt?“, fragt Laura Gurrera und zeigt dabei auf einen Stift. „Maler!“, ruft Safa begeistert. Das Wort Stift fehlt ihr noch, aber sie weiß sich zu helfen.
Kurvige Linien mit Buntstiften nachziehen: Das können nicht alle Kinder
8.40 Uhr: Es schellt. Die Kinder wechseln an ihren Platz. Jeder arbeitet nun an seinem Piratenheft. Die erste Aufgabe: „Malt euch bitte selbst in diesen Rahmen“. Sandra, die fast gar nicht spricht, obwohl sie offenbar das meiste versteht, malt gleich drei Kinder mit braunem Gesicht und schwarzem Haar. „Bist du das, mit deinen Geschwistern?“ Sie nickt, tippt auf einen der drei und haucht das Wort „Bruder“. Mit den Händen zeigt sie: kleiner Bruder. Und kleine Schwester. Yakup malt den Bilderrahmen gewissenhaft aus, aber ohne Porträt. Warum? Er zuckt die Schultern.
8.50 Uhr: Luisa (5) hat schon vier Aufgaben fertig, ihr Nachbar hat mit der ersten kaum angefangen. Kurvige Linien mit Buntstiften nachziehen: Kein Problem für das Mädchen, das mit drei in die Kita kam. Leider gilt beides nicht für alle.
8.55 Uhr: Ayra (5) schneidet auch schon eifrig aus. Sein Selbstporträt zeigt einen lustigen kleinen Kerl mit großen Ohren und breitem Lachen. Auf dessen Brust steht „Cool Boys“. „Hast du das geschrieben?!?“, fragt die Reporterin erstaunt. „Ja“, lautet die stolze Antwort. „Ich kann schreiben und lesen.“ Seine Bücher zu Hause lese er auf Englisch, erklärt der in Indien geborene Junge, der vor einem Jahr erst nach Deutschland kam und sofort in die Kita ging. Aber die Schule gefalle ihm eindeutig besser.
9.15 Uhr: Nach der Arbeit kommt Entspannung. Gemeinsam wird ein „Stampf“-Lied gesungen. Die ganze Klasse stampft nach Herzenslust im Takt und klatscht. Danach heißt es Händewaschen, Frühstück auspacken. Alle haben eine gut gefüllte Dose dabei: mit Toast, Vollkornbrot, Obst, Süßem – ganz unterschiedlich. Dass alle etwas haben, freut die Lehrerin. „Das ist nicht selbstverständlich. Aber wer nichts hat, für den haben wir Brote und Äpfel, gespendet von der Tafel. Die sind sehr beliebt.“
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9.30 Uhr: Es hat zur Pause geschellt. Aufstellen zu zweit im Flur, um gemeinsam zum Schulhof zu gehen. Das klappt schon richtig gut. Die ersten beiden Stunden verliefen erstaunlich ruhig. „Es sind auch noch nicht alle Kinder da. Vier fehlen, fünf weitere sind noch gar nicht aufgetaucht seit Schulbeginn“, erklärt Lisa Ludwig.
10.05 Uhr: Schnell noch etwas trinken in der Klasse, bevor es wieder in die Bankecke geht. Es ist die Woche des Buchstaben „O“. Gemeinsam werden Worte mit „O“ gesucht. „Ohr“, ruft Liam, „Ohrring“, ergänzt Yakup Emir. Arya sagt „Otter“: Die Lehrerin staunt.
10.30 Uhr: An der Tafel malt nun jeder nacheinander große und kleine „O“s. „Oben anfangen und linksherum den Kreis schließen“, erklärt Ludwig. Geübt wird in Zweiergruppen, bevor das Buchstabenheft verteilt wird. Darin soll mit Bleistift geübt werden. Da auch heute einige keinen dabei haben, gibt es Leih-Bleistifte in einem säuberlich beschrifteten Schubladenschränkchen. Es gibt darin auch Radiergummis, Anspitzer, Scheren. Das Malen innerhalb der Linien fällt manchem sichtlich schwer, anderen ist die Herausforderung zu klein. Bei allen gleichzeitig zu sein, ist nicht möglich. Lisa Ludwig hat Extra-Arbeitsblätter vorbereitet für alle Fälle: Für jene, denen es zu leicht, und jene, denen es zu schwer ist. Sich überall dazu setzen, wo um Hilfe gebeten wird: Das geht nicht ohne Doppelbesetzung.
10.55 Uhr: Eigentlich sollen die Kinder noch arbeiten, aber mittlerweile ist es mit der Ruhe in der Klasse vorbei. Ein kleines Mädchen klettert auf ihrem Stuhl herum, kaum einer ist noch voll bei der Sache. Lisa Ludwig spricht jetzt laut, ihr Klangschalen-Gong dringt nicht sofort durch.
11.05 Uhr: Ein gemeinsames Kennenlern-Spiel – Plätzetausch, der Spieler muss erkennen, wer hinter seinem Rücken getauscht hat – lockert die Stimmung auf. Danach darf jeder sich aus der Spielecke der Klasse holen, was er mag. Die stille Sandra stürmt auf die Bücher zu, Arya auch. Andere teilen sich Spiele. Das funktioniert gut, es ist wieder ein wenig ruhiger, als der Gong ertönt, der das Ende des Schultages verkündet.
Zehn Sprachförderstunden pro Woche sollen es sein
Es ist Unterrichtsende für die Kinder, aber nicht für Lisa Ludwig. Für die junge Vollzeitkraft stehen nun noch Team- und Dienstbesprechung an, dreimal die Woche kommt Hausaufgabenbetreuung in der OGS hinzu, bisweilen auch Erstförderung in anderen Klassen. 28 Stunden in der Schule plus Unterrichtsvorbereitung daheim. In den Teambesprechungen wird abgestimmt, wer als Nächstes was mit seiner Klasse macht. Damit jeder sofort einspringen kann, falls jemand wegen Erkrankung ausfällt.
Wenn der Ordnungsdienst die neuen Kinder bringt
14 Klassenlehrer für 14 Klassen gibt es, aber bisher neben 1,5 Fachlehrerstellen für Sport und Musik ansonsten nur 2,5 Sonderpädagogen plus Sozialarbeiter und drei Alltagshelfern seit diesem Jahr. Einspringen gehört da zum Alltag. Im September sollen eine weitere Vollzeitkraft und eine 19-Stunden-Stelle dazu kommen. Dann könnte auch Krankheitsvertretung umgesetzt werden. Auf die Sprach-Erstförderung – zehn Stunden je Woche – mag Schulleiter Thorsten Seiß auch jetzt nicht verzichten. Bei den meisten Klassen ist sie bereits fest eingeplant, bei den fehlenden läuft sie ab September.
Wenn die Nachzügler die Klassen füllen, wird es noch schwieriger
Bald dürfte es für die Lehrkräfte ohnehin noch einmal schwieriger werden: Wenn die Nachzügler, die trotz x-facher Mahnung und erteilter Ordnungsstrafe für die Eltern bis heute nicht zur Schule gekommen sind, dann eskortiert vom Ordnungsdienst in die Klassen kommen. Dann brauchen auch sie noch mal Extraförderung in den Basiskompetenzen. Und bis zum Schuljahresende werden es sowieso 26 Kinder in der Klasse sein.