Gelsenkichen/Essen. „Unfassbar“ findet Prof. Klemm die fehlende Weitsicht der Bildungspolitik. Diese unpopulären Maßnahmen hält er jetzt für zwingend.

Obwohl seine Emeritierung bereits 2007 erfolgte, beobachtet Klaus Klemm das Bildungssystem weiterhin sehr genau. Der ehemalige Professor für Bildungsforschung und Bildungsplanung an der Universität Duisburg-Essen hat seine ersten Aufsätze in den Siebzigern veröffentlicht. Wie historisch sind Sie also, die Probleme von heute? Und was hilft gegen sie?

  • Dieser Text ist Teil des Online-Dossiers „Bildungskatastrophe: So steht es um unser Schulsystem“ der WAZ Gelsenkirchen. Alle Analysen, Berichte und Reportagen zum Thema finden Sie hier!

Sie erforschen das Bildungssystem seit Jahrzehnten. War die Lage schon einmal so dramatisch wie jetzt?

Prof. Klaus Klemm: Es ist nicht das erste Mal, dass von einer Bildungskatastrophe gesprochen wird. Aber in der Tat ist die Lage jetzt besonders problematisch. Manche Probleme gibt es seit den Siebzigern, im Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolgen hat sich seitdem nichts getan. Aber gegenwärtig kommt verschärfend hinzu, dass wir einen sehr starken demografischen Anstieg der Schülerzahlen haben. Das schlägt sich in zwei Bereichen nieder: Wir haben auf lange Zeit einen erheblichen Mangel an Lehrkräften und wir haben wenig Möglichkeiten, den höheren Bedarf an Schulraum zu bedienen.

2019 haben sie den Aufsatz „Lehrkräftemangel – Unvorhergesehenes und Vorhersehbares“ veröffentlicht. Was war mit Blick auf den auch in Gelsenkirchen drastischen Personalmangel vorhersehbar, was nicht?

Dass es nach 2012 plötzlich einen unglaublich hohen Geburtenanstieg gab und 2015 zu einer so starken Zuwanderung kam, das konnte man nicht vorhersehen. Aber als die Kinder dann geboren waren, konnte man natürlich damit rechnen, dass es sechs Jahre später zu einem hohen Andrang auf die Schulen kommen wird. Die Kultusministerkonferenz hat ihre Bedarfsplanung aber nicht angepasst – und reagiert auch heute nicht hinreichend: In der aktuellen NRW-Prognose wird davon ausgegangen, dass es in den weiterführenden Schulen bis zum Ende der dreißiger Jahre ein konstantes Angebot an Lehrkräften geben wird – ohne dass dabei berücksichtigt wird, dass es 2026 aufgrund der Rückkehr zu G9 an den Gymnasien keinen Abitur-Jahrgang geben wird, dass also sieben Jahre später eine viel geringere Zahl an Lehramtsabsolvierenden zu erwarten ist. Unfassbar ist das aus meiner Sicht. Insgesamt sind zum Beispiel in Bayern die Prognosen zum Arbeitsmarkt für Lehrkräfte deutlich belastbarer. Sie werden dort fortlaufend an aktuelle Entwicklungen angepasst.

Das Kind ist bereits in den Brunnen gefallen. Was kann man dem Lehrermangel jetzt entgegensetzen?

Es wird nicht ohne forcierte Ressourcenzuweisung gehen. Wenn das Personal insgesamt knapp ist, muss man es dort einsetzen, wo es besonders gebraucht wird und die Zuweisung der Lehrkräfte konsequent an sozialen Indikatoren ausrichten. Auch Seiteneinsteiger, die ja jetzt vermehrt eingestellt werden, sollten mehr in den sozial stärkeren Stadtteilen als in den schwächeren zum Einsatz kommen.

Politisch populär ist das sicher nicht.

Ja, schließlich ist die Wahlbeteiligung meist dort hoch, wo mehr Menschen mit einem höheren sozialen Stand wohnen. Also will man die Schulen dort nicht schwächen. Die Politik wird in unserem Wahlsystem damit nicht gefordert, die sozial schwachen Stadtteile zu fördern. Das kann man den Abgeordneten nicht vorwerfen, aber man sollte schon schaffen, die schulscharfe Ausschreibung zu beenden. Dann würden nicht länger diejenigen Schulen die meisten Lehrkräfte bekommen, an denen sich auch die meisten bewerben. Das halte ich übrigens auch für verträglicher als die von Ministerin Feller angepeilten Zwangs-Abordnungen, nachdem sich Lehrkräfte bereits in Schulen eingerichtet haben.

So viel zur aktuellen Problemlösung. Was brauchen wir langfristig? Etwa eine einzige weiterführende Schulform, in der alle Kinder zusammenlernen?

Ganz klar: Die gemeinsame Schule, die übrigens international der Standard ist, halte ich für die bessere Schulform. Aber das ist eine rein theoretische Diskussion, weil keine einzige Partei bereit wäre, mit dieser Forderung in den Wahlkampf zu ziehen. Wer fordert, das aktuelle Schulsystem abzuschaffen, hat die Eltern, die ihre Kinder auf die Gymnasien schicken und sich viel mehr an politischen Wahlen beteiligen, auf der Gegenfahrbahn. Was ich dagegen für realisierbar hielte, ist ein zweigliedriges System – dass es also Gymnasien gibt und eine weitere Schulform, in der ein breites Spektrum an Schülern zusammen lernt. Auch hier werden sich die Probleme nicht von alleine lösen. Aber sie wären einfacher anzugehen.