Gelsenkirchen. Seit Jahren arbeitet in Gelsenkirchen ein Team für suizidgefährdete junge Menschen. Wie die Helfer Jugendliche vom Selbstmord abbringen wollen.

Es kann ein entscheidender „Klick“ sein, oder das vielbeschworene, noch so kleine Licht am Ende des Tunnels, und kann alles ändern. „U 25“ ist der schlichte Name des Teams bei der Caritas Gelsenkirchen, und meint Menschen unter 25 Jahren. Denn bei denen gehört Selbstmord zu den häufigsten Todesursachen. „U 25“ besteht seit zehn Jahren und arbeitet nur auf E-Mail-Basis. Hinter der Online-Beratung steht eine Projektgruppe für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene bis 25 zur Suizidvorbeugung und in Krisensituationen.

„Wir wollen jetzt das Leben feiern“, fasst Chantal Abt zusammen, die hauptamtliche Kraft im Haus an der Kirchstraße, vor allem für die 27 ehrenamtlichen Kräfte, mit denen sie und die beiden Werkstudentinnen Viktoria Schwulera und Anna Schlösser mit jeweils halben Stellen und 15 Stunden pro Woche im Einsatz sind.

Chantal Abt, Viktoria Schwulera und Anna Schlösser (v.l.) arbeiten mit aktuell 27 Ehrenamtlern in der Projektgruppe „U 25“ bei der Gelsenkirchener Caritas.
Chantal Abt, Viktoria Schwulera und Anna Schlösser (v.l.) arbeiten mit aktuell 27 Ehrenamtlern in der Projektgruppe „U 25“ bei der Gelsenkirchener Caritas. © WAZ | Caritas

Daten und Statistiken sind bei diesem Thema kaum belastbar, denn übergroß ist die Quote an Dunkelziffern. Immerhin: „2021 war Suizid in der Gruppe der 16- bis 25-Jährigen die häufigste Todesursache“, hat Abt parat. Auf 150 Fälle pro Monat schätzt sie die Zahl der Kontakte bei „U 25“, und schickt hinterher „leider stehen bei uns wie bei den anderen Adressen 70 Prozent der Fälle auf „Rot“, das heißt: Keine Kapazitäten, und das aus finanziellen Gründen.“

Oft ist das Team in Gelsenkirchen die erste Anlaufstelle überhaupt

Das Angebot ist betont niederschwellig und anonym, per E-Mail. „Wir sehen uns nicht“, betont Schwulera, „bauen langsam einen Kontakt auf. Das geht zunächst über sieben Tage und ist im Team immer an dieselbe Person gebunden. Manchmal ist es nur eine Mail, manchmal kann es über drei oder vier Jahre gehen“, lässt sie die Perspektive für alle Fälle offen. „Aber sie sollen auch sicher sein, dass nicht plötzlich der Rettungswagen vor der Tür steht oder sie in die Psychiatrie kommen.“

Oft ist hier die erste Anlaufstelle für die Menschen in Krisensituationen. „Jugendliche brauchen oft keine Therapie“, sind die Helferinnen sicher und tasten sich vor. „Wir geben Tipps für das Umfeld, an wen sich sie sich wenden können. Aber manchmal stellen sie auch fest: „Ich verstehe Dich“, selbst wenn die suizidale Absicht allzu deutlich erscheint, dass jemand einfach nicht mehr kann.

„Manchmal sind wir die einzigen, die es wissen“, räumen die beiden ein, „schon dadurch versteht sich eine wertschätzende Reaktion für diejenigen, die sich melden. Mancher traut sich dann auch, andere in seinem Umfeld anzusprechen.“

Es klingt fast erschreckend nüchtern, wenn Abt kurz das Vorgehen schildert. „Wir versuchen abzuklopfen, wie stark der Gedanke an Suizid ist, ob es schon ein Konzept, einen Plan gibt, das Umfeld Bescheid weiß“, zählt sie auf. „Und einen Abschiedsbrief.“ Aber sie weiß auch: „Suizidversuche sind noch viel häufiger, denn oft klappt es nicht beim ersten Mal.“

Irgendwann gilt die Abgrenzung, wird der Laptop zugeklappt

„Wer sich meldet, hat noch nicht ganz aufgegeben“, das bildet die Basis, und zwangsläufig schwebt über den Kontakten die Verantwortung für ein Leben, das hier auf dem Spiel steht. Aber auch der Selbstschutz, gerade für die Ehrenamtlichen, die regelmäßig zusammenkommen. Und die auch klar sagen können, wenn sie krank sind, im Urlaub oder an ihre Grenzen kommen. „Wir lassen sie nicht allein, sagen: Achtet auf Euch, grenzt Euch ab. Ihr seid freiwillig dabei, das ist keine Pflicht.“

„Irgendwann muss man auch klar den Laptop zuklappen, sagen, nein, nicht am Wochenende“, gibt Abt ihrem Team mit, „und wir hier sind auch nur im Büro erreichbar“. Denn sie erfahren schließlich Dinge, die niemand sonst mitkriegt, ungefiltert und voller Vertrauen. Die E-Mail macht es vielleicht einfacher, etwas in Worte zu fassen, „und vielleicht noch ‘mal zu lesen“.

Mit der Zeit können die Gedanken auch wieder gehen

Vielleicht auch zu überdenken, denn der Faktor Zeit kann ebenfalls entscheiden. Manchmal verkürzen sie bei „U 25“ die übliche Frist, aber mindestens zwei Tage sollten bis zur Antwort verstreichen. „Das kann auch schon präventiv wirken“, erzählt Abt, „denn so schnell wie sie kommen, gehen Gedanken auch wieder“.

Für sich haben die drei Hauptamtlichen festgestellt: „Es bringt zwischenmenschlich weiter, man entwickelt sich, wird sensibler, empfänglicher und hört genauer hin. Wenn es heißt, jemand möchte alles hinschmeißen, fragt man: Wie hast Du das gemeint?“ „Das sagt man eben so“, das gelte dann nicht mehr. „Man wird hellhörig“, meint Viktoria Schwulera.

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Auf der anderen Seite kann bei den Helferinnen das Selbstbewusstsein wachsen. „Selbstwirksamkeit“, so fasst Chantal Abt lächelnd ihre Motivation zusammen. „Man lernt, das Leben zu genießen, zu erkennen und anzuerkennen, was wichtig ist und dankbarer zu sein.“ Und auch: „Dass es stark ist, wenn sie sich wieder melden, dass sie es geschafft haben.“

„Manche Fälle bewegen dann auch schon ‘mal das ganze Team“, berichtet Chantal Abt abschließend. „Und bei manchen wundern wir uns irgendwann: Krass, dass die überhaupt noch da sind.“

Elf Standorte für die U 25-Suizidberatung der Caritas gibt es bundesweit, vier in NRW. „Wir in Gelsenkirchen sind früh eingestiegen, nachdem eine Untersuchung gezeigt hatte, dass Jüngere eher nicht zu einer Beratung gehen. Dafür ist das online dann schnell durch die Decke gegangen“, beschreibt Chantal Abt.

Zehn Termine sind in der Regel zur Vorbereitung für Ehrenamtliche vorgesehen. In Kennenlerngesprächen loten die Mitarbeiterinnen aus, wie stabil die Interessenten sind.

Zurzeit wird bei der Gelsenkirchener Caritas eine halbe Stelle in der Projektgruppe noch gefördert, allerdings befristet bis 2024. Die Gruppe finanziert sich über Eigenmittel und Spenden. Näheres unter , Homepage: www.u25-gelsenkirchen.de, Facebook: /, Instagram: