Gelsenkirchen. Unterwegs mit dem Zoll auf Verbrecherjagd. Die WAZ Gelsenkirchen taucht mit ein in die kriminelle Halbwelt der Clans und Schmuggler.
- Drogen- und Zigarettenschmuggler sind in Gelsenkirchen bei Kontrollen aufgeflogen
- „Heiße Ware“ im Gesamtwert von rund 100.000 Euro wurden beschlagnahmt
- Kriminelle Clans führen erbitterte Kämpfe um den größten Anteil am illegalen Geschäft
Bei Formel-1-Weltmeister Michael Schumacher ist es das berühmte „Popometer“ gewesen, das den Rennfahrer von Erfolg zu Erfolg rasen ließ – das Gefühl für Asphalt und Maschine. Solch einen „siebten Sinn“ haben aber auch andere. Polizei und Zoll etwa. Acht Stunden begleitet diese Zeitung den Zoll bei der Jagd, an derem Ende zwei Schmuggler auffliegen und „heißer Scheiß“ für den Schwarzmarkt in und um Gelsenkirchen im Wert von rund 100.000 Euro stehen. Dazu tiefere Einblicke wie sich die Halbwelt krimineller Clans in der Emscherstadt gerade verändert.
„RandM Tornado ist der neue heiße Scheiß“ – riesige Gewinne beflügeln Schmuggel
Kioske, Shisha-Bars und die Autobahn 2 als Transitroute stehen an diesem Abend im Visier von Norman Wiesemeyer und seinem 13-köpfigen Team, darunter sind auch „Niko“ und „Max“, die Protagonisten des „Kabel1“-Formats „Achtung Kontrolle!“. Wiesemeyer ist der Leiter der Kontrolleinheit Verkehrswege beim Hauptzollamt Dortmund, zu dessen Einzugsgebiet auch die Emscherstadt gehört. Eine ihrer wichtigsten Aufgaben ist die Kontrolle des grenzüberschreitenden Warenverkehrs: Also der Kampf gegen den Schmuggel.
Kaum hat die Jagd nach heißer Ware am Abend begonnen, wird das erste Strafverfahren gegen einen Fahrer eines Transporters eingeleitet. Die beiden Kinder im Renault Master schauen schüchtern in die Runde, so viele bewaffnete Uniformierte auf einmal haben sie wohl noch nicht gesehen.
„Das ist der neue heiße Scheiß“, erklärt Wiesemeyer und zeigt auf Kisten auf der Ladefläche des Transporters. „RandM Tornado“ steht auf dem Etikett – Einweg-E-Zigaretten mit bis zu 20 Milliliter Inhalt. „10.000 Puffs“, also Züge sind drin. Die gesetzliche Grenze liegt allerdings bei zwei Millilitern und 800 Zügen.
550 Pakete solcher E-Zigaretten hat der Mann im Gepäck, dazu noch 131 Dosen „Snus“, eine Form von EU-weit verbotenem Lutschtabak (bis auf Schweden) sowie 32 Pakete kleinerer unversteuerter E-Zigaretten. Verkaufswert: Um den Faktor drei höher als der Einkaufspreis, in diesem Fall liegt der Erlös bei etwa 15.000 Euro. Macht 10.000 Euro Gewinn. Klar, dass der Markt bei solchen Spannen geradezu hochkocht. „Hergestellt wird das Zeug in China, über Holland und Belgien gelangt es nach Deutschland“, skizzieren Niko und Max die weltumspannenden Handelsrouten. Tipp:Unterwegs mit dem Zoll: Die besten Bilder
Ein Steinschlagschaden in der gesplitterten Windschutzscheibe des weißen Lieferwagens hatte das Interesse einer Polizeistreife geweckt, der Fahrer, der Wagen, die Kinder – irgendwie ergaben diese Puzzleteile kein passendes Gesamtbild – also ging die Kelle raus. Denn auch die Polizei hat solche illegalen Machenschaften auf dem Kieker. Der Zoll beschlagnahmt dann die Schmugglerware.
Syrische Kriminelle überschwemmen den Markt mit Shisha-Tabak – Clans schwenken auf Einweg-E-Zigaretten um
Wieder im zivilen Zoll-Auto und auf dem Weg zu mehreren Kiosken in den Stadtteilen Bismarck, Horst, Feldmark und Rotthausen, verrät Wiesemeyer, wie sich das Geschäft gewandelt hat. Der Beamte bringt einen Berg aus vier Jahrzehnten Erfahrung im Einsatz mit, stellt eine drastische Verschiebung auf dem Markt fest: „Es werden immer mehr Einweg-E-Zigaretten gehandelt, während das Geschäft mit Wasserpfeifentabak etwas zurückgeht.“ Lesetipp:Polizeipräsident: Syrische Clans dürfen sich nicht verfestigen
Nach WAZ-Informationen überschwemmen syrische Kriminelle gerade den Markt mit unversteuertem Shisha-Tabak, während die etablierten Clans auf E-Zigaretten umschwenken. Als Folge davon entzünden sich heftige Revierkämpfe, die Krawalle zuletzt in Essen und Castrop-Rauxel sind nur eine Folge davon.
Diese Entwicklung deutete sich bereits in einer früheren Analyse des Innenministeriums zur Clan-Kriminalität an. Beschafften sich demnach zugewanderte Syrer zunächst als Handlanger krimineller türkisch-arabischer Großfamilien zusätzliche illegale Einnahmequellen, so gewinnen sie heute mehr und mehr an Einfluss in dem Geschäft. Lesetipp:Clan-Kämpfe in Gelsenkirchen um lukrative kriminelle Märkte
Kiosk-Hinterzimmer mit halbem Fitnessstudio – Armbrust, Luftgewehr, Machete
Lutschtabak, Cannabis-Produkte und Marihuana sind nach Angaben des Zolls die Topseller auf dem Schwarzmarkt – aber auch Tabak erlebt gerade seine Renaissance. Kioske und Shisha-Bars steuern die Kontrolleure in Gelsenkirchen deshalb gezielt an. Von ihnen gibt es insgesamt mehr als 400 in Gelsenkirchen. Und wiederkehrend, denn: „In Gelsenkirchen finden wir im Prinzip in jedem Kiosk etwas“, sagt Norman Wiesemeyer und gibt den Einsatzbefehl.
Der Beweis folgt auf dem Fuß. Niko, Max und die anderen baumlangen Einsatzkräfte stoßen auf gefüllte Tabakköpfe, nicht aber auf die mengenmäßig dazu passenden Dosen oder Behälter mit Steuerbanderolen.
Andernorts beschlagnahmen die Beamten einen Elektroschocker, der sich als Taschenlampe neben der Kasse tarnt. Sie stoßen auf einen jungen Mann, der angeblich nur mal eben auf die Trinkhalle aufpasst. Als er die Einsatzfahrzeuge anrücken sieht, hastet er hinter dem Verkaufstresen hervor, stellt sich in den Eingang und tut so als wäre er Kunde. Ein Fall für die Kollegen von der Finanzkontrolle Schwarzarbeit, eine andere Baustelle als heute. Aber einen Tipp wert für die Kollegen. Im Hinterzimmer entdecken die Beamten ein halbes Fitnessstudio, eine freundliche Bulldogge schnüffelt um ihre Füße herum, als sie Armbrust, Luftgewehr, Machete und Tomahawk begutachten.
Postzusteller mit gefälschtem Pass – Führerschein zur Fahndung ausgeschrieben
Mit Einbruch der Dunkelheit geht es auf die A2 zwischen Bottrop und Resser Mark. Die Zollkräfte scannen Fahrzeuge und Insassen in Sekundenbruchteilen im Vorbeifahren. Es sind Dutzende Punkte, die in ihre Risikoanalyse mit einfließen. Fahrzeugtyp und -zustand und Kennzeichen beispielsweise, wohlwissend, dass die organisierten Banden im grenzübergreifenden Schmuggelverkehr „deutsche Nummernschilder verwenden“, oder auch „mal Frauen und Kinder mit in den Wagen setzen“, um weniger aufzufallen. „Aber ein Risiko, denn je mehr Mitwisser es gibt, desto größer die Gefahr, später aufzufliegen“, tönt es zur Erklärung vom Fahrersitz.
Ein schmutziger weißer Mercedes-Sprinter mit Essener Kennzeichen hat es besonders eilig. Der Mann mit dem kahl geschorenen Kopf brettert mit mehr als 170 Stundenkilometern über die Autobahn. Über Funk kommt das Go, kurz darauf befindet sich der Transporter in der Zange zwischen zwei Einsatzfahrzeugen. Rote LED-Lampen schreiben die Aufforderung zu folgen. Nächster Halt: Rastplatz Allenstein.
1,6 Tonnen an Betäubungsmitteln
2022 haben die Kräfte des Hauptzollamtes über 248 Kilogramm Rauschgift sowie 965 Kilogramm unversteuerten Wasserpfeifentabak, knapp 313.000 unversteuerte Zigaretten und 35.000 Einweg E-Zigaretten sichergestellt.
Außerdem wurden sechs verbotene Waffen beschlagnahmt. Tendenz: steigend. „In diesem Jahr sind es bereits 1,6 Tonnen an Betäubungsmitteln“, weiß Wiesemeyer.
Die Nervosität des Postzustellers ist berechtigt. Der Mann, der weder Deutsch noch Englisch spricht, präsentiert Niko und Max einen gefälschten Führerschein. Den beiden Zöllnern fällt sofort auf, dass das Dokument „keinerlei Sicherheitsmerkmale“ aufweist, das UV-Licht entlarvt den Schwindel. Zu allem Überfluss präsentiert der Fahrer den Beamten noch einen rumänischen Personalausweis – auch eine Fälschung, dazu noch schlecht gemacht. Der moldawische Pass scheint zumindest echt zu sein. Herauskommt: Seine Fahrerlaubnis ist zur Fahndung ausgeschrieben, wohl wegen eines Verkehrsdeliktes. Fahren darf er schon mal gar nicht, ob er sich hier überhaupt aufhalten darf, gilt es noch abzuklären.
Drogenkurier mit über sechs Kilogramm Marihuana – Ablenkungsmanöver durch gespieltes Übergeben
Wenig später taucht ein silberner Opel Astra aus Ahaus nachts im Scheinwerferkegel des zivilen Einsatzfahrzeugs auf. Gut 500 Meter weiter vorn fahren ihre Kollegen im grün-weißen Einsatzwagen. Kaum dass die reflektierenden Buchstaben des Zolls aufblitzen, verringert der Mann hinter dem Lenkrad das Tempo. Viel Verkehr war ohnehin nicht, das betont defensive Fahren ist für die Beamten ein Schlüsselreflex. Erneuter Zangengriff.
Der Fahrer eiert aus dem Wagen, eine Tüte in den Händen, er kniet sich neben die Tür, Würgelaute sind zu hören. Der Mann scheint sich zu erbrechen und Hilfe zu brauchen. Seine Pupillen sind aber geweitet und aus dem Auto macht sich trotz der wohl vorab gefüllten „Kotztüte“ ein leichter süßlicher Geruch breit.
Die Vorahnung von Niko und Max, die mit ihren Kollegen das Auto umstellt haben, wird Sekunden später zur Gewissheit: Der geöffnete Kofferraum gibt eine riesige Plastiktasche preis. Darin sechs Beutel Marihuana nach einem Zwischenstopp in Enschede (Niederlande). Wert: rund 70.000 Euro. „Ein Volltreffer“, sagt Norman Wiesemeyer, während seine Kollegen dem Dortmunder sein Handy abnehmen und ihn „eintüten“. Jetzt gilt es, unter anderem über die Handydaten an die Hintermänner zu kommen.
Nach einem Telefonat mit der Staatsanwaltschaft ist klar: Der Mann wird am nächsten Morgen dem Haftrichter in Gelsenkirchen vorgeführt. Bis dahin kommt er in Polizeigewahrsam. Problem dabei. Gelsenkirchens Zellen sind rappelvoll und anderswo ist es auch nicht viel besser. Eine halbe Stunde vergeht, dann fährt der Drogen-Kurier in Recklinghausen ein. Polizei und Zoll – über mangelnde Arbeit können sie sie nicht beklagen.