Gelsenkirchen. Langsam erwacht die Bochumer Straße in Gelsenkirchen aus ihrem Dornröschenschlaf. Ein Rückblick auf die Glanzzeit der Meile und ihre Akteure.
Sie wird eindeutig wieder lebendiger, die Bochumer Straße zwischen dem Talentzentrum – der ehemaligen Verwaltung der Gussstahlwerke – und der ehemaligen Knappschaftsklinik beziehungsweise der Gesamtschule Ückendorf auf der gegenüberliegenden Seite. Vom prunkvollen Glanz der Jahre vor und nach dem Zweiten Weltkrieg allerdings ist sie noch immer weit entfernt. Der Stadtteil wandelt sich, und eine alteingesessene Ückendorferin – Gisela Bienk – freut sich darüber besonders. Im „Hier ist nicht da“, im Hind, wie auch sie es nennt, zapfte dereinst ihr Großvater Biere für Gäste. „Gasthof zur Post“ hieß die Schankwirtschaft – gegenüber der Post.
Vor dem Tanzpalast flogen spätabends auch mal die Fäuste
„Die Post war hier auf dem Gelände des heutigen Nachbarschaftsgartens“, erklärt die Seniorin, die noch heute den Ückendorfer Nachwuchs turnerisch unterstützt. „Neben unserem Gasthof war der Tanzpalast. Da war es abends immer laut, es gab nur eine Entlüftung, keine Schallisolierung“, erinnert sich Bienk beim gemeinsamen Spaziergang mit der WAZ-Reporterin. Und zu später Stunde flogen vor dem Haus auch mal die Fäuste, wenn der Alkoholpegel der Gäste genug angestiegen war, erinnert sich die Seniorin, deren Fitness noch heute manchen 60-Jährigen vor Neid erblassen lässt. Heute sitzt in den Räumen des Tanzpalastes ein junges Unternehmen.
Wo heute die Trinkhalle am Flöz Gäste bewirtet, war früher ein Möbelgeschäft, erinnert sich Gisela Bienk. Und daneben schnitt Frau Wolf – die Mutter des Bestseller-Autors Klaus-Peter Wolf – den Menschen aus dem Viertel die Haare. Der Autor selbst erinnert in seinen Büchern teilweise selbst an seine Jugend in seiner Heimat.
Zahlreiche Bäckereien säumten die Straße
Zwischen Möbel Scharf an der Ecke und dem Friseurgeschäft gab es ein Lebensmittelgeschäft, einen typischen Tante Emma-Laden, ergänzt Bienk noch. Richtung Heilig Kreuz Kirche bot „Moden Herbst“ der Stammkundschaft besonderen Service. Jedes auserwählte Teil durfte mit nach Hause genommen und dort in Ruhe probiert werden. Was nicht passte, wurde passend bestellt oder vor Ort angepasst.
Bienks Großvater August Büsing betrieb auch Bäckereien im Stadtteil. Die Ware brachte er mit dem Pferdewagen zum Kunden. „Unsere Bäckerei hieß ‘Dampfbäckerei Büsing’. Mein Opa machte die größten Amerikaner in der Stadt, dafür waren wir bekannt.“ Die Backstube stand damals allerdings nicht an der Bochumer, sondern im Hinterhof Im Busche. „Aber wir waren nicht das einzige Bäckereigeschäft an der Bochumer Straße. Sehr bekannt und über Jahrzehnte vor Ort war auch Villis an der Ecke Virchowstraße; das steinerne Relief an der Virchowstraße vor der Hinterhof-Backstube prangt heute noch über dem Portal“, sagt Bienk und zeigt auf den stark verwitterten, auf den erste Blick unscheinbaren Portikus keine fünf Meter von der Ecke Bochumer Straße entfernt.
Durst löschen nach der Schicht im „Gasthof zum Gussstahlwerk“ nebenan
Die Liste der Bäckereien und Konditoreien, die einst die üppige Bewohnerschaft der damals prominenten Einkaufsmeile mit allen erdenklichen Dienstleistern versorgte, ist lang. Eine davon war die Konditorei Leo Huneke an der Bochumer Straße 126, Ecke Breilstraße. Das Gebäude neben dem Rhodos Grill steht heute leer. Durstige und hungrige Gussstahlarbeiter und ihre Familien kehrten im Restaurant Anton Schucht, dem „Gasthof zum Gussstahlwerk“, ein. Der Gasthof befand sich neben dem heutigen NRW-Talentzentrum, das vormals als Amtsgericht, ursprünglich aber als Verwaltungssitz der Gussstahlwerke diente.
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Zu Beginn des 20. Jahrhunderts mussten Bewohner ihre Straße kaum je verlassen, um etwas einkaufen zu können. Das Möbellager Winberg versorgte den Stadtteil mit Sofas und mehr, Hans Pfingstmann sorgte bis in die 50er Jahre für Wurst- und Fleisch-Versorgung (Hausnummer 66), Eugen Grauer installierte Licht-, Klingel und Telefonanlagen (Nr. 101), Heinrich Imberg versorgte den Stadtteil mit „elektrotechnischem Gerät“ (Nr. 162), Tapeten und Farben gab es bei Lohmann (NR. 101) und in den Räumen des ehemaligen Rolandtheaters nahe dem Bunker schenkte ab 1954 die Familie Kraus heimische Glückauf-Biere sowie „erlesenste Weine und Spirituosen“ aus.
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Historische Bilder aus der Glanzzeit der Bochumer Straße
Apropos Bunker: Dessen Schutz genoss Gisela Bienk bereits als Säugling, also ihre Familie mit ihr dort Schutz suchte. Heute hofft die Ückendorferin, die zwar längst Im Busche in Ückendorf zuhause ist, aber dennoch nahezu jeden Anwohner der Bochumer Straße zu kennen scheint, dass ihre alte Straße zu altem Glanz zurück findet. Man ist auf einem guten Weg, ist sie überzeugt.