Gelsenkirchen. Auf 1200 m² schaffen die „Heidelbürger-Wohnkumpane“ eine neue Form des Wohnens für Gelsenkirchen. Hinter den Kulissen der Genossenschaft.
Im Schatten der entweihten Heilig-Kreuz-Kirche, die sich vom Gotteshaus zur Event-Stätte gewandelt hat, wächst ein Projekt, das ebenso Modellcharakter für die Stadt, für die Gesellschaft haben könnte: Wie wollen wir künftig wohnen, angesichts klimaschädlichen Betons, gedeihender Vereinsamung? Sicher nicht alleine im Reihenhaus, finden die „Heidelbürger“. Sie wollen künftig mit 22 Leuten auf 1200 Quadratmetern zusammen wohnen und arbeiten – als Genossenschaft, als Ückendorfer „Wohnkumpane“.
Einer steht für alle ein – auf finanzielle wie auf soziale Weise. Die Entscheidungen werden hier basisdemokratisch im Konsens getroffen. Das ist das Prinzip der Wohnform. Jeden zweiten Sonntag trifft sich die Gemeinschaft deshalb, um „unaufgeregt und füreinander sorgend“ den aktuellen Stand auf der Baustelle zu besprechen oder um Neubewerber für die Genossenschaft kennenzulernen. Bislang wohnen hier an der Heidelberger Straße erst fünf Erwachsene, zwei Kinder und Hund Rudi in einem ehemaligen Gemeindehaus. Mit fortschreitender Umgestaltung der anderen beiden Abschnitte, der alten Kita „Talentzwerge“ und der ehemaligen Gemeindebibliothek, sollen dann auch die anderen einziehen können.
Heidelbürger-Genossenschaft in Gelsenkirchen-Ückendorf: Gemeinschaft ohne Zwang
„Wir warten sehnsüchtig darauf“, sagt Gilla Luttermann, die mit 69 Jahren die Älteste im Verbund ist. „Hier hat man ein Gefühl der Gemeinschaft, ohne ihr ausgesetzt zu sein“, bringt Dominik Karl, mit 27 Jahren der jüngste volljährige Heidelbürger, den Reiz der Wohnform auf den Punkt.
Denn neben einigen Gemeinschaftsräumen soll jede Partei ihre eigene Wohnung erhalten. Die Genossenschaftsanteile dafür – 600 Euro pro Quadratmeter privater Räumlichkeit – hat jeder schon gezahlt. Finanziell wird das Projekt zudem durch „Nutzungsentgelte“ gestemmt (Infobox). Nun braucht es nur noch etwas Geduld, von der hier allerdings alle schon viel bewiesen haben: Zunächst hatte ein sich jahrelang herausgezögerter Umzug der „Talentzwerge“ zur Bochumer Straße nebenan für Ärger gesorgt, jetzt sind es Unwägbarkeiten in der Baubranche. Angepeilter Fertigstellungstermin: September 2023.
Genossenschaft in Gelsenkirchen-Ückendorf: Wohnungen getrennt durch Glaswände
Jasmin Friedmann und ihr Mann Linus werden sich dann von weit über 100 Quadratmetern ihrer Wohnung auf 70 Quadratmeter hier in Ückendorf verkleinern. „Ich finde das erleichternd“, sagt sie. „Ich will nicht mehr so viel besitzen. Es reicht doch, wenn man eine Kettensäge hat, wenn man einen Rasenmäher hat, den sich alle teilen“, sagt die 50-Jährige. Es sei hier ein bisschen wie eine kleine Dorfgemeinschaft, mit einem nachhaltigen Leben, im sozialen wie im ökologischen Sinne. „Wenn man den Planeten irgendwie retten will, kann sich nicht jeder ein eigenes Haus bauen.“
Dieser Gemeinschaftssinn prägt auch die Innenarchitektur des fertigen Abschnitts, des ehemaligen Gemeindehauses. Die unscheinbare Backsteinfassade lässt es von außen nicht erahnen, aber beim Eintritt erwartet einen das imposante 400-Quadratmeter-Atelier des Heidelbürger Künstlers Christoph Lammert. Seine abstrakten Kunstwerke nehmen Wände, Tische und die große Bühne ein, die hier noch – mitsamt rotem Vorhang – erhalten geblieben ist. Von hier kann man direkt in die erste Wohnung blicken; dazwischen liegt lediglich eine große Glaswand. Transparenz als Lebensstil.
Auch die Abtrennung zu der Wohnung der Familie Schmidt/Ferda nebenan ist entsprechend durchsichtig. „Es sollen aber nicht alle Wohnungen so gestaltet werden“, sagt Anne Schmidt, die dort wohnt. Ihren Kindern (3, 5) jedenfalls gefällt die Durchlässigkeit sichtlich; die Fläche ist groß, die Beschäftigungsmöglichkeiten scheinen unendlich. „Das war gerade in der Corona-Zeit toll, eine so große Fläche für sie zu haben“, sagt die Augenärztin. Und überall ist jemand, der mal mit den Kindern Zeit verbringen kann. „Manchmal stehen sie da neben Christoph und malen einfach mit.“
Enge Verbindungen mit dem Ückendorfer Kreativ-Quartier
Die Gemeinschaft ist nicht nur innerhalb der Genossenschaft zu sehen. Die Wohnkumpane sind quasi ein Organ des Ückendorfer Kreativquartiers, das in den letzten Jahren immer mehr wächst. „Wir sind gut vernetzt, wir sind hier alle viel unterwegs“, sagt Kerstin Pütz, die ehrenamtlich sogar Führungen über die Bochumer Straße anbietet. Deshalb soll einer der Räume in der ehemaligen Kita auch zu einem Gemeinschaftsraum werden, nicht nur für die Genossenschaft, sondern für den Stadtteil. Dort soll ein Begegnungsraum für verschiedenste Ideen entstehen – vom Kinderkino bis zu Kochkursen.
Unter den Genossenschaftern sind nicht nur Ur-Ückendorfer wie die 42-jährige Kerstin Pütz, sondern auch welche, die den Stadtteil erst durch sein kulturelles Aufblühen schätzen gelernt haben. „Es war die ,Szeniale’ im Jahr 2019, als wir so richtig auf Ückendorf aufmerksam wurden“, sagt Linus Friedmann über das „Festival der freien Künste“, das im August 2023 seine neue Spielzeit eröffnen wird. „An diesem Tag dachte ich mir: Ich will wirklich nirgendwo anders sein als hier.“
Genossenschafter sind vereint durch die „Offenheit für Veränderungen“
Etwa 1000 Euro für Familien im Monat
Auf einen Heidelbürger kommen modellhaft folgende Kosten zu: Wenn die Genossenschaftsanteile, die für eine Familie mit einer Wohnung von 100 m² ein Invest in Höhe von 60.000 Euro bedeuten, per Bankkredit bezahlt werden, ist es zum einen die monatliche Tilgung.
Hinzukommt das „Nutzungsentgelt“, quasi die Miete für die Wohnung, die etwa 7 bis 8 Euro pro Quadratmeter privat genutzter Fläche ausmachen. Das wären dann am Beispiel der Familie also 700 bis 800 Euro monatlich. Wie hoch das Nutzungsentgelt am Ende wirklich wird, hängt aber mit den finalen Baukosten zusammen.
Hinzukommt eine Pauschale für die Nutzung und Pflege der Gemeinschaftsräume von rund 50 Euro. Insgesamt macht das – je nach Kredit – monatliche Wohnkosten von grob 1000 Euro. Die Wohnkumpanen haben die Möglichkeiten, ihre Einheit jederzeit zu kündigen. Die persönlichen Genossenschaftsanteile werden dann zurückgezahlt. „Wer hier investiert, investiert nicht in Betongold, sondern in die Gesellschaft“, heißt es.
Die Buchhaltung müssen die Heidelbürger nicht selbst übernehmen, das erledigt eine sogenannte Dachgenossenschaft, die „Ko-Operativ eG NRW“, für sie. Unter ihrem Dach sind neben den Heidelbürgern auch Genossenschaftsprojekte in Dortmund, Wuppertal, Düsseldorf und Aachen entstanden.
Aber der schlechte Ruf Ückendorfs klebt eben an dem Stadtteil wie „Hundekot an den Schuhsohlen“, konstatiert Kerstin Pütz im Klartext. Ückendorf eilte ihm auch voraus, als Künstler Christoph Lammert und seine Ehefrau Hiltrud Lammert-Hense das Heidelbürger-Projekt vor rund acht Jahren ins Rollen brachten. „Wir waren auf der Suche nach einem Ort, wo wir Wohnen und Arbeiten miteinander verbinden können“, erinnert sich Lammert-Hense. Durch mehrere Ruhrgebietsquartiere seien die damaligen Bochumer „gestiefelt“, als sie dann hörten, dass die Kirche das Gemeindehaus verkaufen will. Für das Paar war der Ort ideal; für viele ihrer Bekannten nicht. „Viele sagten: ,So ein Wohnprojekt ist super – aber doch nicht in GE-Ückendorf.’“
Und so kam es schließlich, dass die Lammerts aus ihrem alten Bekanntenkreis niemanden mit in die Gemeinschaft brachten. Wer hier jetzt zusammenleben möchte, kannte sich vorher nicht. „Wir sind eigentlich alle über das Projekt zusammengekommen“, sagt Anne Schmidt.
Es sind also keine alten Freunde hier, keine Menschen mit ähnlichen Lebenswegen – der eine ist Musiker, die andere Psychologin, die eine Pädagogin, der andere ITler. Das Alter – sowieso völlig unterschiedlich. Und auch der Bezug zu Ückendorf, zu Gelsenkirchen ist bei allen ein anderer. „Aber“, sagt Jasmin Friedmann, „was uns wohl alle eint, das ist die Offenheit für Veränderungen.“
Aktuell sind zwar alle Wohnungen reserviert, die „Heidelbürger“ haben aber das langfristige Ziel, noch weiter zu wachsen. Wer Interesse hat, kann sich melden unter mitmachen@wohnkumpane.de.