Gelsenkirchen. In Gelsenkirchen werden in den nächsten Jahren voraussichtlich sehr viel mehr Schrotthäuser abgerissen. Das Vorhaben hat auch Schattenseiten.

In Gelsenkirchen steht voraussichtlich ein Jahrzehnt des Schrotthaus-Abrisses an: Mit der „Zukunftspartnerschaft“ zwischen Land und Kommune sollen bis mindestens 2027 rund 3000 heruntergekommene Wohneinheiten vom Markt genommen werden. Zwar wird bei dem Projekt auch der Klimaschutz propagiert; so sollen etwaige Neubauten hohe energetische Standards erfüllen. Aber gerade aus der Umwelt-Perspektive hat das Projekt auch potenzielle Schattenseiten. Denn müsste der großzügige Abriss, selbst von Schrotthäusern, aus ökologischen Gesichtspunkten nicht eigentlich verhindert werden? „Ja, das müsste er“, sagt Architektin Prof. Annette Hillebrandt vom Lehrstuhl für Baukonstruktion, Entwurf und Materialkunde der Universität Wuppertal.

Schrotthaus-Rückbau in Gelsenkirchen Wissenschaftler schlagen „Abrissmoratorium“ vor

Die an der Grenze zu Gelsenkirchen aufgewachsene Wissenschaftlerin ist Expertin für nachhaltiges Bauen. Sie macht darauf aufmerksam, dass für einen Rohbau schon „jede Menge Energie aufgewandt und jede Menge CO2 in die Luft emittiert wurde“. Reiße man ab, um neu zu bauen, würden wieder sehr viel Treibhausgase entstehen. „Daher plädieren Wissenschaftler des nachhaltigen Bauens für den Bestandserhalt und auch schon für ein ,Abrissmoratorium’“, sagt sie. Sei der Abriss unvermeidlich, dann dürfe nur noch „selektiver Rückbau“ erlaubt werden. Das heißt laut Prof. Hillebrandt: „Alle rückgebauten Bauteile und Materialien müssen zerstörungsfrei wiedergewonnen werden und zum Kauf auf Bauteilbörsen angeboten werden oder in eigenen Neubauprojekten erneut verbaut werden.“

Abriss an der St.-Theresia-Kirche in Hassel – sind solche Arbeiten noch zeitgemäß?
Abriss an der St.-Theresia-Kirche in Hassel – sind solche Arbeiten noch zeitgemäß? © FUNKE Foto Services | Christoph Wojtyczka

Zwar soll nicht jedes, im Rahmen der Zukunftspartnerschaft abgerissene Haus neu aufgebaut werden – die Entsiegelung, also Wiederbegrünung von Flächen, spielt bei dem Programm ebenfalls eine Rolle. Aber auch heißt es in der Partnerschaftserklärung: „Damit mehr Menschen in Gelsenkirchen dauerhaft wohnen bleiben, muss in der Stadt mehr qualitativ hochwertiger Wohnraum in guten bzw. sehr guten Wohnlagen entstehen.“ Hierzu müssten die derzeit „schlichten Bestände der Nachkriegszeit“ durch Neubau ersetzt werden.

So nachhaltig baut derzeit die GGW in Gelsenkirchen

Eine Schlüsselrolle bei der Zukunftspartnerschaft wird die Gelsenkirchener Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft, die GGW, einnehmen. Die 100-prozentige Stadttochter steht bereit, um Schrotthäuser in der Stadt zu erwerben, um dort neu zu bauen. Doch wie sehr achtet die GGW eigentlich aktuell bereits auf ökologisches Bauen?

Auf Nachfrage sagt GGW-Sprecherin Janin Meyer-Simon, dass neue Entwicklungen auf dem Wohnungsmarkt „intensiv beobachtet werden“, neben der Ökologie allerdings auch die Bezahlbarkeit der Wohnungen nicht außer Acht gelassen werden dürfe.

Neubauten der GGW seien mit Holzpellet-Heizungen oder Luft-Wärmepumpen sowie „zumindest teilweise“ mit regenerativer Fernwärme ausgestattet. Man berücksichtige bei Neubau und – sofern technisch möglich – auch bei Modernisierungen stets Solarflächen, wie etwa beim GGW-Projekt Am Tiemannsweg in Erle. An der Feldmarkstraße, an einem anderen GGW-Gebäude, seien Solarflächen bei der Modernisierung dagegen beispielsweise nicht realisierbar. „Daher wird eine Fassadenbegrünung vorgenommen.“ Zudem setze man bei der Dämmung grundsätzlich auf „hochwertige Mineralwolle mit Dämmfähigkeit“ und dreifachverglaste Fenster. Projekte wie die GGW-Wohnungen im Buerschen Waldbogen oder der „Heidehof“ Heistraße haben damit eine KfW-Effizienzklasse 55.

Zement verursacht alleine acht Prozent der globalen Emissionen

Architektin Annette Hillebrandt ist Professorin am Lehrstuhl für Baukonstruktion, Entwurf und Materialkunde an der Universität Wuppertal.
Architektin Annette Hillebrandt ist Professorin am Lehrstuhl für Baukonstruktion, Entwurf und Materialkunde an der Universität Wuppertal. © A. Hillebrandt.

Klingt alles gut, und ist auch laut Prof. Hillebrandt „ein guter bis sehr guter Standard“ – sofern auch eine Regenwasserversickerung mitgedacht werde. Allerdings gelte es, im Sinne der Nachhaltigkeit auch unbedingt die Wiederverwertbarkeit von Baustoffen im Blick zu haben. Die Wissenschaftlerin macht die Notwendigkeit mit Blick auf den Beton beispielhaft deutlich. „Das Bindemittel Zement verursacht zirka acht Prozent der globalen Emissionen!“ – da solle man vielmehr auf „Recycling-Gesteinskörnung“ statt klassischen Beton setzen. „Nur so wird nationaler Sand- und Kiesabbau verhindert“, betont Hillebrandt. „Große Kiesvorkommen befinden sich in Deutschland unter Waldgebieten, diese müssen wir erhalten!“

Hat die GGW solche Problemlagen überhaupt im Blick? Ist das zirkuläre Bauen, also die Wiederverwertung von Ressourcen im Bauwesen, für sie ein Thema?

Expertin: „Jede Verbrennung ist schädlich“

„Der Einsatz von Recyclingmaterialien erfolgt aktuell im Wesentlichen bei Neubauten im Bereich der Gründung“, sagt Meyer-Simon. Hier werde möglichst Recyclingmaterial, „das durch strikte Baustofftrennung bei der Niederlegung von Gebäuden entsteht“, anstelle von Schotter als Schicht für den Boden eingesetzt. Gegenwärtige prüfe die GGW zudem den vermehrten Einsatz von Holzbaustoffen, um den Betonanteil insgesamt zu reduzieren. Weitere Entwicklungen im Bereich recycelter Baumaterialien beobachte man darüber hinaus „sehr sorgfältig.“

Welche dieser Beobachtungen am Ende in die „Zukunftspartnerschaft“ fließen, dürfte für den ökologischen Wert des Großprojekts entscheidend sein. Klar für Annette Hillebrandt ist jedenfalls: Der massenhafte Abriss von Gebäuden mit der massenhaften Entsorgung alter Baumaterialien ist da angesichts der ökologischen Herausforderungen nicht mehr zeitgemäß: „Ein mittelmäßig sanierter Bestandsbau schlägt den Neubau in puncto CO2-Fußabdruck!“, betont sie. „Und jede Verbrennung ist schädlich, wir haben nur noch ein sehr kleines CO2-Budget, wenn wir die Klimakatastrophe verhindern wollen.“