Gelsenkirchen. Altersarmut in Gelsenkirchen: Ilse Bremer trifft die Inflation hart. „Vom Staat erwarte ich nichts mehr“, sagt sie. Ein Verein kann helfen.

Offen mit ihrer knappen Rente, mit ihrer Armut umgehen? Ilse Bremer* aus Bulmke-Hüllen will es jetzt tun, ausnahmsweise. Dabei passt es eigentlich so gar nicht zu ihr. „Ich habe Scham, ich habe Angst“, sagt sie. „Ich möchte nicht, dass die anderen Hüller wissen, dass ich auf dem Zahnfleisch gehe.“ Ihr richtiger Name? Der muss deswegen nicht in der Zeitung stehen. Aber ungefiltert reden will sie. Weil es durch die Inflation und die Energiekrise immer dramatischer bei ihr geworden ist. Weil sie anderen mitteilen möchte, wo es Hilfe gibt, von der viele nichts wissen.

Rund 1200 Euro Rente bekommt die Witwe im Monat. Abgezogen werden mehr als 500 Euro Warmmiete und 75 Euro für Strom – etwa 30 Euro mehr als vor den Preissteigerungen. Zieht man weitere Nebenkosten wie den Telefonanschluss, die Rundfunkgebühren oder das Deutschlandticket ab, dann bleiben der Gelsenkirchenerin rund 400 Euro im Monat. „Ich müsste unbedingt die Wohnung gestrichen bekommen, aber das kann ich mir sicher nicht leisten“, sagt sie. „Und wenn irgendwann ein Gerät kaputt geht, dann stehe ich da.“

Witwe aus Gelsenkirchen kocht kaum mehr, um Strom zu sparen

Finanziell schwierig wurde es für die über 80-Jährige, als ihr Mann, der sein Leben lang auf Baustellen schuftete, vor einigen Jahren verstarb. Sie selbst arbeitete bis Mitte vierzig, pflegte danach Angehörige, wie sie erzählt. Die Rentenansprüche blieben deshalb gering, die Witwenrente: nicht der Rede wert. Aber richtig schwer sei es erst geworden, als die Preise in den Supermärkten durch die Decke gingen. „Meistens hole ich mir die günstigsten Fertiggerichte“, sagt sie. „Sonst denke ich mir: Den Strom brauche ich ja auch noch.“

Ausflüge mit ihrer Frauengruppe, die leiste sie sich erst recht nicht mehr. Dabei könnte sie ja eigentlich, gesund sei sie ja schließlich noch. „Ich sag dann immer: Ich schaff es leider nicht, wenn ein Ausflug ansteht. Ich werde nicht zugeben, dass ich mir das nicht erlauben kann.“ Das habe auch ein wenig mit Stolz zu tun, aus der früheren Zeit als Ehepaar mit einem gewissen Wohlstand. „Ich hätte damals nie gedacht, dass ich an so einen Punkt komme“, sagt sie. „Und jetzt stehe ich plötzlich da.“

Seniorin aus Gelsenkirchen erhält über Verein „Lichtblick“ 35 Euro monatlich und Supermarkt-Gutscheine

Anspruch auf Wohngeld habe sie bislang nicht gehabt. Jetzt, nach der Wohngeld-Reform, habe sie erneut einen Antrag gestellt. „Ob ich da was bekomme, weiß ich aber noch nicht“, sagt sie. Vom Staat erwarte sie ohnehin nichts mehr.

Dann aber erfuhr ihre Tochter vom „Lichtblick Seniorenhilfe e. V.“ – ein Verein, den es seit 20 Jahren gibt, der jedoch erst vor etwa einem Jahr auf Initiative von Sozialdezernentin Andrea Henze in Gelsenkirchen aktiv wurde. „Unbürokratisch helfen“ will der Verein jenen Menschen, „deren Rente nicht zum Leben und Überleben reicht“, wie „Lichtblick“-Mitarbeiter Jürgen Daldrup im vergangenen Ausschuss für Soziales in Gelsenkirchen erläuterte.

Dort teilte Daldrup auch mit, dass es bislang 38 Anträge auf Unterstützung in Gelsenkirchen gegeben habe, wovon 35 bewilligt worden seien – darunter auch jener von Ilse Bremer. Sie erhält seit ihrem Kontakt mit der Seniorenhilfe 35 Euro zusätzlich im Monat. Das Geld erhält sie über eine Patenschaft, die vom Verein organisiert wurde.

Darüber hinaus habe „Lichtblick“ für sie eine Rückzahlungsforderung in Höhe von 90 Euro übernommen, von der die Hüllerin bei ihrer Jahresstromrechnung überrascht wurde. Hinzu kamen mehrere Einkaufsgutscheine in Höhe von 50 Euro. Und 100 Euro zu Weihnachten, „damit ich meinem Enkel, meinem Schwiegersohn und meiner Tochter auch ein Geschenk machen konnte.“

Gestiegene Kosten treiben arme Rentnerinnen und Rentner „in den Wahnsinn“

2003 hat die Münchnerin Lydia Staltner den Verein gegründet. Mit 70 Bedürftigen fing alles an. Heute werden von drei Standorten in München, Deggendorf und Münster aus deutschlandweit rund 27.000 Rentnerinnen und Rentner ihr Leben lang unterstützt. Begleitet werden Senioren über 60 Jahren, die eine deutsche Rente beziehen und Grundsicherung im Alter oder Wohngeld bekommen oder deren Rente knapp über der Bemessungsgrenze für Sozialleistungen liegt. Letzteres trifft auf Ilse Bremer zu.

Viele Menschen, die vom Verein Unterstützung erhalten, müssen mit noch weniger als die Gelsenkirchenerin auskommen. Im Jahresbericht sind Schicksale von Menschen aufgeführt, die rund 630 Euro Rente bekommen, dazu rund 200 Euro Grundsicherung. Vor der Inflation, sagt Jürgen Daldrup von „Lichtblick“ gegenüber der WAZ, hätte jemand mit einer Rente wie Ilse Bremer möglicherweise noch einigermaßen gut über die Runden kommen können. „Heute, mit den so stark gestiegenen Kosten, treibt das die Betroffenen aber in den Wahnsinn.“

Bald steht für Ilse Bremer die Nebenkostenabrechnung für das vergangene Jahr an, für den Zeitraum, als die Gaspreise explodierten. Natürlich erwarte sie diese mit Sorge, sagt sie. „Aber jetzt weiß ich, dass man mir im Notfall helfen kann.“

(* Name durch die Redaktion geändert)