Gelsenkirchen. Die seit dem Jahr 2014 geltende Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU liefert Lücken, die Geschäftemacher auch in Gelsenkirchen ausnutzen.
- Die Stadt kämpft gegen eine neue Form des Sozialbetrugs
- Dabei handelt es sich oft um Geschäftemacherei auf dem Rücken von Zuwanderern
- Etwa mittels Scheinarbeit versuchen Kriminelle Geld zu verdienen
Als ob Gelsenkirchen nicht schon genug Probleme hätte mit einer Arbeitslosenquote von dauerhaft fast 15 Prozent – trauriger Rekord im Westen – und einem Strukturwandel, der nur langsam in die Gänge kommt. Jetzt muss die Stadt auch noch an einer anderen Front kämpfen: gegen eine neue Form von Sozialbetrug, Geschäftemacherei auf dem Rücken von Zuwanderern – und wohl auch durch manche Neuankömmlinge selbst.
Die Türen für Geschäftemacher öffnen sich durch eine rechtliche Grauzone und durch die seit 2014 geltende Freizügigkeit von Arbeitnehmern in der EU für Rumänen und Bulgaren. 4200 Rumänen – viele gehören der Volksgruppe der Roma an – und etwa 2000 Bulgaren leben in der Stadt. Freizügigkeit bedeutet, dass andere EU-Bürger nach Deutschland ziehen dürfen, wenn sie sich hier um einen Job bemühen. Sechs Monate haben sie dafür Zeit. Eine Chance, überall in der Europäischen Union zu arbeiten.
Der Einstieg
„Das große Geschäft wird mit so genannten Schrottimmobilien gemacht“, sagt Uwe Gerwin. Er ist mit Stadtsprecher Martin Schulmann in die WAZ-Redaktion gekommen, um über die Situation zu sprechen. Gerwin ist der städtische Projektleiter für die EU-Zuwanderung Ost und neben einer engagierten Schar von Mitarbeitern des Jobcenters, des Kommunalen Ordnungsdienstes (KOD) und Sozialarbeitern einer derjenigen, die gegen die dubiosen Geschäfte zu Felde ziehen wollen. Eine Herausforderung, die einer Sisyphos-Aufgabe gleichzukommen scheint.
Die Methode
Gelsenkirchen hat einen Leerstand von etwa 10.000 Wohnungen. Zahlreiche Gebäude sind so marode, dass die Abrissbirne ihr trostloses Dasein beenden müsste. Zugleich sind hier in der Stadt die Mieten vergleichsweise niedrig, Wohnungen sind schon ab vier Euro pro Quadratmeter zu bekommen. „Das Geschäft beginnt, sobald eine Zwangsversteigerung eröffnet wird“, erklärt Uwe Gerwin. Wer bei Gericht mitbieten will, muss vorher nur eine Sicherheitsleistung zahlen, die entspricht zehn Prozent des Verkehrswertes, 4000, 5000, vielleicht auch 6000 Euro. Der Höchstbietende erhält den Zuschlag, er ist der neue Hausbesitzer, muss aber den Kaufpreis nicht sofort zahlen. „Das ist die entscheidende Lücke für die Geschäftemacher“, so Gerwin weiter. Sie zahlten nicht, und nach einem halben Jahr wird vom Gericht die nächste Zwangsversteigerung angeordnet. Doch bis es so weit ist, kann der neue Besitzer beispielsweise bei Bulgaren und Rumänen Mieten eintreiben. Schon nach zwei Monaten rechnet sich das Modell.
Warum ausgerechnet Rumänen und Bulgaren? „Weil sie auf dem freien Markt keine Chance haben, eine Wohnung zu bekommen“, weiß Uwe Gerwin. Sie stehen am Ende einer Verwertungskette, ebenso hier wie in ihren Heimatländern. Und so wundern sie sich auch nicht, dass alsbald Eintreiber, Mittelsmänner des Vermieters, vor ihren Türen stehen, die persönlich die Miete kassieren – in bar. Wer nicht zahlt, fliegt raus. Von diesen Einnahmen zwackt dann ein Strohmann des Schrotthaus-Dealers die nächste Anzahlung für das Gericht ab, wenn dasselbe Haus am Ende erneut versteigert wird. „Auf diese Weise wechseln oft die Besitzer und die Einnahmen der Schrotthaus-Dealer steigen“, so Gerwin.
Der Domino-Effekt
Die Ausbeutung der Zuwanderer treibt aber noch ganz andere Blüten, bereitet den Boden für einen Dschungel aus krummen Geschäften. Denn die Neuankömmlinge brauchen einen Job, um in Deutschland bleiben zu dürfen. Und den müssen sie ausgerechnet in einer Stadt finden, wo selbst die Bewerber für Aushilfsjobs zu hunderten Schlange stehen, ohne gute Sprachkenntnisse und in der Regel auch ohne Qualifikation.
Wie das geht? „Mit Scheinarbeit“, sagt Stadtsprecher Martin Schulmann. Die Stadt habe bereits etliche hundert Menschen aus dem Leistungsbezug genommen, oft seien Strafverfahren gegen die Unternehmer anhängig. Zuletzt traf es eine Reinigungsfirma an der Bulmker Straße, die wie ein Pilz aus dem Boden geschossen ist und gleich 120 Angestellte hatte.
An dieser Stelle kommen Scheinarbeitgeber ins Spiel, meist Türken, Libanesen oder Rumänen. Manchmal sind die Dealer auch verwandt mit ihnen. „Die Zuwanderer bekommen dann mitunter Dienstleistungen aus einer Hand“, so Schulmann weiter. Er zählt auf: einen Arbeitsvertrag, wohlgemerkt immer einen Mini-Job etwa als Putzhilfe, Hausmeister oder Maurer und dazu einen anstandslos ausgefüllten Hartz IV-Antrag. Mini-Job deshalb, weil man so eine höchstmögliche Aufstockung des Gehalts durch das Jobcenter erwirken kann. Nach Angaben der Stadt gehen die Prüfer des Jobcenters derzeit 60 solchen Fällen nach.
Zwei weitere alternative Geldquellen erschließen sich Neubürgern, die gewillt sind, unlauter vorzugehen: mit der Familienkasse – die überweist das Kindergeld für die recht oft vielköpfige Familie - oder über den Arbeiterstrich: Sammelstellen an Cafés oder Wettbüros, an denen die Tagelöhner eingesammelt werden. Der Bezug von Kindergeld setzt allerdings eine Anmeldung bei der Stadt voraus. Da die Daten in den Computern der Familienkasse aber nur einmal im Jahr abgeglichen werden und Kindergeld auch bis zu vier Jahre rückwirkend gezahlt wird, erfährt die Kasse nicht, ob ein Rumäne oder Bulgare, der Kindergeld bekommt, längst wieder in seiner Heimat wohnt. Das schlägt sich dann in einem mittleren fünfstelligen Betrag nieder.
Die Gegenmaßnahmen
Im Gelsenkirchener Jobcenter für Arbeit IAG ist für den Kampf gegen Schrotthaus-Dealer und Scheinarbeit eine gesonderte Gruppe gegründet worden, berichtet Stadtsprecher Martin Schulmann. Leistungen gibt es nur nach Anmeldung, dazu werden Verdachtsimmobilien und Geschäftssitze einer engmaschigen Prüfung unterzogen. Die Ermittler gingen dabei sogar so weit, dass „selbst Wortwahl und Schrift“ verglichen würden in den Unterlagen. Auch würden Käufer bei Zwangsversteigerungen genauer unter die Lupe genommen, sofern die Stadt der Gläubiger ist.
Gern würde die Stadt Gelsenkirchen auch mehr Schrottimmobilien erwerben und mehr oder weniger direkt danach dem Erdboden gleich machen, allein ihr fehlen die finanziellen Mittel dazu. Die reichen gerade einmal für drei Objekte pro Jahr – Grund ist die angespannte Haushaltslage. Erschwerend kommt hinzu, dass die Gelsenkirchener Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft (ggw) nichts willens ist, derartige Immobilien abzureißen – das würde nach Angaben der Stadt die Bilanz der hundertprozentigen Tochter und damit am Ende deren Kreditlinien schwächen.
Die Hoffnung
Was bleibt? Wohl nur die Hoffnung, dass sich bei den Zuwanderern die Erkenntnis verfestigt, „dass es nicht mehr so einfach ist, in Gelsenkirchen so sein Leben zu fristen“, wie es Martin Schulmann formulierte. Jüngste Zahlen geben Anlass, das zu glauben. Seit Anfang vergangenen Jahres sind 4599 Rumänen und Bulgaren nach Gelsenkirchen gezogen, 3106 sind aber auch wieder fortgezogen.