Gelsenkirchen. Ein Aktionstag der Evangelischen Gesamtschüler Gelsenkirchen geht Rassismus auf den Grund. Dabei berichten Zeitzeugen von heute Erschütterndes.

Eigentlich sollte dieser Aktionstag am offiziellen Holocaust-Gedenktag stattfinden, also am 27. Januar, dem Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz 1945. Doch da stand bei den Schülerinnen und Schülern der Evangelischen Gesamtschule etwas anderes auf der Tagesordnung: Eine Amokdrohung warf alle Pläne um. Jetzt hat der Auschwitz-Projektkurs des 12. Jahrgangs das pralle Informations-, Aktions- und Diskussionspaket zum Thema nachträglich ausgepackt: Klassen der fünften, siebten und achten Jahrgänge waren zum Auspacken und Mitmachen eingeladen.

Von Matzen-Fladen bis zum Kanonenfutter der Hitlerjugend

In Workshops ging es um Informationen zur Judenverfolgung in Nazi-Deutschland, den Alltag im Konzentrationslager, jüdisches Leben, Ausgrenzung, Rassenlehre und Rassismus. Eine Gruppe widmete sich jüdischen Traditionen an Festtagen. In der Schulküche wurde gebacken, Matzen und Hamantaschen, das sind ungesäuerte Brotfladen und süß gefüllte Teigtaschen, die jeweils zu Festtagen auf den Tisch kommen. Beides gab es zum Probieren auch im Verkauf. Eine andere Gruppe gestaltete Plakate, die erklären, wie Kinder in der Hitlerjugend indoktriniert wurden – um später als Kanonenfutter in den letzten Kriegstagen verheizt zu werden.

Matzen, das ungesäuerte Fladenbrot, spielt in der jüdischen Küche eine wichtige Rolle. Der Teig besteht schlicht aus Mehl, Salz und Wasser – und ist ganz schön klebrig, wie Jamal hier feststellt. Im Hintergrund links sind die Betreuer des Kurses, Jasmina (rechts), Tristan und Elias (vorne) versuchten sich ebenfalls im Kneten.
Matzen, das ungesäuerte Fladenbrot, spielt in der jüdischen Küche eine wichtige Rolle. Der Teig besteht schlicht aus Mehl, Salz und Wasser – und ist ganz schön klebrig, wie Jamal hier feststellt. Im Hintergrund links sind die Betreuer des Kurses, Jasmina (rechts), Tristan und Elias (vorne) versuchten sich ebenfalls im Kneten. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Im Workshop zum Konzentrationslager und dessen Aufbau schilderte ein Projektteam den menschenunwürdigen Alltag im Lager Birkenau: Um vier Uhr aufstehen, elf Stunden harte körperliche Arbeit, schmerzhafter Hunger, medizinische Experimente an Menschen, das Ende in der Gaskammer: Die Fünftklässler verfolgten die Schilderungen, die auch ohne die bewusst nicht gezeigten Bilder von Knochenbergen mehr als eindrucksvoll waren, auffällig still.

Verheerende Erfahrungen bei Interviews zum Thema auf Gelsenkirchens Straßen

Um Identität drehte sich ein anderes Mitmach-Angebot: Es galt, sich selbst zu zeichnen und sichtbar zu machen, was die eigene Persönlichkeit ausmacht: wobei die Grundkontur für alle gleich gestaltet war. Variabel waren Kleidung, Haut- und Haarfarbe und Attribute aller Art. Ein Team hat einen Film gedreht, in dem Gelsenkirchener zum Thema Holocaust und Rassismus auf der Straße interviewt wurden. Es war ein schwieriges Unterfangen. Die Interviewer erfuhren viel Ablehnung, Unverständnis – und mussten manche Beleidigung ertragen.

„Mobbing, nur weil du anders aussiehst oder sprichst: Das zerstört dich!“

Philipp, Joy und Maria aus dem 12er-Projekt haben den Aktionstag organisiert.
Philipp, Joy und Maria aus dem 12er-Projekt haben den Aktionstag organisiert. © Sibylle Raudies

Der Rassismus-Workshop begann mit der Verfolgung jüdischer Menschen in Nazi-Deutschland und mündete im Appell an die Teilnehmer, sich einzumischen, aktiv gegen Rassismus, den es auch im Deutschland von 2023 gibt, anzugehen. Die Diskussionsrunde leiteten zwei junge Männer, die allzu genau wissen, wie sich Diskriminierung aus rassistschen Gründen anfühlt. Pavly war als Christ in Ägypten verfolgt, flüchtete deshalb nach Deutschland, Omar kam mit seinen Eltern als Verfolgter aus Syrien nach Deutschland. Die beiden Zwölftklässler schilderten eindrücklich, wie es sich anfühlt, wenn man gemobbt wird, weil man anders aussieht oder die Sprache (noch) nicht spricht und es schwer ist, sich zu wehren. Erlebt haben beide dieses Mobbing in Deutschland, an den Schulen, an denen sie zunächst landeten (nicht an der EGG, die Red.), aber auch im Alltag.

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„Wir hatten uns auf Deutschland als sicheren Ort gefreut. Wir kamen ja nicht als Urlauber. Aber Mitschüler haben uns ausgelacht. ,Lernt erstmal Deutsch’ hieß es. Die Erwachsenen haben das zunächst nicht ernst genommen. Das war wirklich schlimm“, schildert Omar den Fünftklässlern. Und fragt sie, was sie tun, wenn sie beobachten, wie andere gemobbt werden. „Ich würde meinem Freund sofort helfen“, beteuert ein Zehnjähriger. „Und einem Fremden?“ kommt die Gegenfrage von Pavly. Nach kurzem Schweigen geht wieder ein Finger in die Luft: „Ich würde nicht nur Freunden helfen.“

Premiere mit Mitmach-Programm

Der Holocaust-Gedenktag am 27. Januar wird an der EGG alljährlich begangen, bislang jedoch jeweils nur mit einer Ansprache. Der umfangreiche Aktionstag war eine Premiere des aktuellen Projektkurses im 12. Jahrgang. Ein Dreierteam – Maria, Joy und Philipp – übernahm die Gesamtorganisation, die übrigen Kursteilnehmer bereiteten die einzelnen Workshops vor und betreuten diese.

Ende 2022 erhielt die EGG in einem im Regierungsbezirk ausgeschriebenen Wettbewerb zum Thema „Jüdisches Leben in Deutschland“ den zweiten Preis für einen Videobeitrag mit dem Titel „Ein Stein für jede Träne, ein Film über Tod und Trauer im Judentum“. In dem Film geht es um Trauerrituale in jüdischen Familien und darum, was jüdische Friedhöfe für die Ewigkeit von kommunalen oder christlichen Friedhöfen unterscheidet.

Omar antwortet mit einem Appell: „Ihr müsst auch bei Fremden eingreifen. Nutzt aus, dass wir hier das Recht haben, einzugreifen. Das ist nicht überall so. Dauerhaftes Mobbing, nur weil jemand anders aussieht, eine andere Haut- oder Haarfarbe hat oder anders spricht zum Beispiel, hat schlimme Auswirkungen“, mahnt er. Und wenn alleine einzugreifen nicht möglich oder zu gefährlich ist, müsse man eben Hilfe holen. „Mobbing, gerade wenn ein Mensch sich zum Beispiel mangels Sprachkenntnis nicht wehren kann: Das zerstört einen Menschen. Da muss man etwas gegen tun.“