Gelsenkirchen. Emotionale Appelle, alarmierende Worte: Das Holocaust-Gedenken in der Gertrud-Bäumer-Realschule zeigt, warum das Erinnern wichtiger denn je ist.

„Was geht mich das an?“ – Diese Frage stellt sich am Ende der ebenso eindrucksvollen wie bedrückenden Veranstaltung zum Holocaust-Gedenken an der Gertrud-Bäumer-Realschule (GBS) wohl niemand mehr. Im Geschichtsunterricht hatte sich der zehnte Jahrgang umfassend mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten, den begangenen Gräueltaten in Gelsenkirchen und dem ganzen Land gegen Juden und alle, die nicht mitmarschierten, befasst. Die Klasse 10 d dokumentierte die Stationen der Vernichtung des Judentums in Deutschland mit einer kommentierten Diashow, die auch vor Erschießungsszenen, skelettierten Frauen, Männern und Kindern im Konzentrationslager sowie Leichenbergen nicht Halt machte. Motto des Tages: „We remember“, wir erinnern.

Gedenken in Gelsenkirchen: Ein Leben ohne Hass und Rachegedanken ermöglicht

In einem von GBS-Schülern mit Unterstützung des Berliner Vereins „BildungsBausteine“ erstellten Video schildert Judith Neuwald-Tasbach als Tochter des Gelsenkirchener KZ-Überlebenden Kurt Neuwald Details des unfassbaren Leidenswegs ihrer weitestgehend ausgelöschten Familie. In ihrem Live-Vortrag in der Mensa der Schule erzählt sie auch vom Mut des zurückgekehrten Vaters, der jüdisches Leben in Gelsenkirchen neu aufbaute und seiner Tochter einen Start ins Leben inmitten der Täter ohne Hass, ohne Rachegedanken ermöglichte. Im Vortrag kämpfte sie immer wieder mit den Tränen. Der Erinnerung wegen, aber auch wegen der bis heute immer noch bestehenden Vorurteile gegenüber Menschen jüdischen Glaubens und der wieder wachsenden Bedrohung.

Schüler, Lehrer und Vertreter der Religionsgemeinschaften gedenken am Freitag, 27. Januar 2023 in Gelsenkirchen in der Gertrud-Bäumer-Realschule dem Holocaust.
Schüler, Lehrer und Vertreter der Religionsgemeinschaften gedenken am Freitag, 27. Januar 2023 in Gelsenkirchen in der Gertrud-Bäumer-Realschule dem Holocaust. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

„Mein Leben lang ist meine Religion begleitet von Polizei, weil sie von ihr beschützt werden muss. Wie nötig das ist, hat sich zuletzt besonders gezeigt im Mai 2021, als Menschen Hassparolen an unserer Synagoge schrien. Was hat unsere Religion mit Politik zu tun?! Woher kommt all der Hass? Das habe ich als Kind meinen Vater gefragt, und er wusste keine Antwort. Vor kurzem stellte mir ein Kind aus unserer Gemeinde dieselbe Frage: Und ich kann sie auch nicht beantworten“, klagte sie.

Neuwald-Tasbach appelliert: Rassistische Sprüche nicht unkommentiert hinnehmen

In der Schule wagten junge Mitglieder der jüdischen Gemeinde häufig nicht, sich als Juden zu erkennen zu geben, erwachsene Mitglieder holten ihre Post lieber in der Synagoge ab, um keine Briefe mit Stempel der Gemeinde im Briefkasten zu haben. Vor allem aber spüre sie, wie die Gesellschaft sich wieder verändere. Sie appellierte an die Schülerinnen und Schüler nicht nur Anti-Rassist zu sein, sondern sich aktiv gegen Rassismus einzusetzen. Einzuschreiten, wenn andere bedroht oder beleidigt werden. Rassistische Sprüche nicht unkommentiert hinzunehmen, sondern klar Stellung zu beziehen.

Lesen Sie dazu auch:

„Schweigen wird von diesen Menschen als Zustimmung gewertet, sie fühlen sich bestätigt. Und hetzen beim nächsten Mal noch stärker. Und irgendwann kommt in der Gesellschaft, in der Hass und Abgrenzung akzeptiert werden, der Point of no Return, der Punkt, in dem Widerspruch nicht mehr möglich ist,“ mahnt die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Neuwald-Tasbach, die selbst stets nach vorn tritt im Dienst von Toleranz und Miteinander. Auch GBS-Schulleiterin Antje Bröhl und Propst Markus Pottbäcker – als Schulpate beim Anti-Rassismus-Projekt – rangen in ihren Gedenkvorträgen immer wieder mit der Fassung. Sichtlich angefasst waren auch die Zuhörer, die Zehntklässler der Schule mit ihren familiären Wurzeln in aller Welt.

Wie sehr Rassismus, Hass und Hetze, heutzutage immer häufiger auch sie etwas angeht, wurde spätestens bei den Appellen des Propstes offensichtlich. „Es gibt in unserer Gesellschaft heute 20 Prozent Nazis. Nicht Nazis wie 1938 oder in den 40er Jahren. Es sind Nazis wie in 1925 oder 1929, die sich langsam aufstellten, die Flüchtlinge identifizieren, Vorurteile verbreiten, Hass schüren. Die Strukturen aufbauen. Wir müssen uns erinnern, wie sich Gesellschaften verändern können und dem entgegenwirken“, forderte Pottbäcker. Solange es noch möglich ist.

Das Video der Schule ist über Youtube abrufbar über die Suchbegriffe „Bildungsbausteine“ und „Neuwald“.