Gelsenkirchen. Experten der Offenen Jugendarbeit in Gelsenkirchen zu den Auswirkungen von Corona: Spätfolgen werden lange nachwirken. Das ist ihr Appell.

Noch immer leiden viele Kinder und Jugendliche unter den Auswirkungen der Corona-Pandemie. Und vermutlich wird das auch noch länger der Fall sein – in ganz unterschiedlichen Facetten und Ausprägungen. Davon sind zumindest drei Experten der Offenen Jugendhilfe in Gelsenkirchen überzeugt. Susanne Franke, Claudia Gertz und Sven Lütkehaus hatten während der akuten Corona-Zeit den direkten Kontakt zu den Kindern und Jugendlichen in dieser Stadt. Im Gespräch mit der WAZ malen sie ein ernüchterndes Bild – und richten klare Forderungen an die Politik.

Jugendarbeit in Gelsenkirchen: „Werden mit den Spätfolgen der Corona-Pandemie noch lange kämpfen“

„Wir werden mit den Spätfolgen noch lange zu kämpfen haben“, sagt Claudia Gertz an diesem Nachmittag, als wir die Drei zu einem gemeinsamen Interview treffen. Es seien schwierige Zeiten, schildert die Leiterin des Vereins „Mädchenzentrum“ ihre Beobachtungen. Sie geht noch einen Schritt weiter: „Da hat die Bundespolitik überhaupt keine Ahnung, das ist eine posttraumatische Belastungsstörung einer ganzen Gesellschaft.“

Claudia Gertz vom Verein „Mädchenzentrum, Sven Lütkehaus, Vorsitzender der AG 78, und Susanne Franke, Leiterin des DGB-Haus der Jugend machen Jugendarbeit in Gelsenkirchen: Die Folgen der Corona-Pandemie sind heftig, sagen sie. Nicht nur für die Jugendliche, sondern auch für das Personal.
Claudia Gertz vom Verein „Mädchenzentrum, Sven Lütkehaus, Vorsitzender der AG 78, und Susanne Franke, Leiterin des DGB-Haus der Jugend machen Jugendarbeit in Gelsenkirchen: Die Folgen der Corona-Pandemie sind heftig, sagen sie. Nicht nur für die Jugendliche, sondern auch für das Personal. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Den Ausbruch der Pandemie beschreibt sie als „impact“, als Einschlag, der im Inneren der Kinder und Jugendlichen sehr viel verändert habe. Plötzlich sei alles auseinandergefallen, vor allem auch die Beziehungen unter den Jugendlichen, die Möglichkeiten, sich auszutauschen, im Miteinander und in Gemeinschaft zu sein. Als Folge habe sie die Kinder und Jugendlichen teilweise als „weniger gruppenfähig“ empfunden, auch Susanne Franke ist partiell aufgefallen: „Das Sozialverhalten war weg, das fand ich am Anfang heftig.“

Im Mädchenzentrum an der Liboriusstraße versuchen Claudia Gertz und ihr Team „Raum zu geben für die, die Zuhause keinen Raum haben.“ Ein ähnlicher Ort, der einen solchen Raum bietet, ist das DGB-Haus der Jugend Gelsenkirchen, mitten in Gelsenkirchen-Altstadt. „Wir liegen direkt in einem Ballungszentrum“, schildert Susanne Franke die Lage. „Unsere Kinder kommen zum Teil aus großen Familien, haben kein eigenes Zimmer und keine Möglichkeiten, Privatsphäre zu finden“ – mit diesen Gedanken erinnert sich die Leiterin des DGB-Hauses auch an die ersten Tage und Wochen im Lockdown.

Corona-Folgen für Jugendliche: Für die mit wenig oder gar keinem Geld war es am allerschlimmsten

Für die, die wenig bis gar kein Geld haben, sei diese Zeit am allerschlimmsten gewesen, berichtet sie. Oftmals hätten die Familien beispielsweise nur ein Smartphone gehabt, damit sank die Chance für die Kinder und Jugendlichen der eigenen engen Corona-Blase, die geprägt war durch Kontaktbeschränkungen, Social Distancing und Homeschooling, zu entkommen. Als es dann wieder losging, mit den ersten Angeboten im Frühsommer 2022, da hätten „alle in den Startlöchern gestanden“.

„Zwei verschiedene Welten, die unter den gleichen Rahmenbedingungen leben, da macht es schon einen Unterschied, ob man zum Mittelstand oder zum unteren Mittelstand gehört“ weiß auch Sven Lütkehaus, Vorsitzender der AG 78, die nach Sozialgesetzbuch zum Ziel hat, die einzelnen Akteure der Offenen Jugendarbeit in dieser Stadt zu vernetzen und deren Angebote zu koordinieren. Im Ausschuss für Kinder und Jugend berichtete Lütkehaus zuletzt: „Drei Jahre im gefühlten bis realen Krisenmodus sind weder an der Gelsenkirchener Jugend noch an den Trägern der Offenen Jugendhilfe und den Jugendverbänden spurlos vorbeigegangen.“

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Die Spannungsfelder: Zum einen habe die Erreichbarkeit der Zielgruppe in den Corona-Jahren abgenommen, gleichzeitig die Belastung im Kreise derer, die Jugendarbeit machen, stark zugenommen, der Fachkräftemangel hinterlässt auch bei der Arbeit mit den jungen Menschen Spuren, die Personal-, Betriebs-, und Sachkosten sind teils immens gestiegen – und dann liefen auch noch die Finanzierungshilfen aus. Sven Lütkehaus, der gleichzeitig Kreisgruppengeschäftsführer des Verbandes „Der Paritätische Gelsenkirchen“ ist, sieht darin eine „toxische Gemengelage“.

Er geht weiter ins Detail: Die Häute der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seien mit der Zeit dünner geworden, „jede Fachkraft ist ja auch im privaten Bereich noch Bürger“. 2022 hatten sie die höchste Ausfallquote, nicht nur durch Corona, sondern auch durch andere Infekte. Unterm Strich fehlten die Leute, war alles knapp bemessen. Und gleichzeitig stiegen die Bedarfe der Zielgruppe. Claudia Gertz kann das bestätigen, erzählt von „völlig überanstrengten Honorarkräften, die reihenweise ausfallen“.

Pandemie-Folgen für Jugendliche in Gelsenkirchen: „Corona hat die Probleme multipliziert“

Auch ins Mädchenzentrum kommen viele Kinder aus sozial schwachen Familien, so Claudia Gertz. „Corona hat die Probleme multipliziert und verschärft. Mädchen, die eh schon Problemlagen hatten, haben jetzt mehr Problemlagen, wie beispielsweise vermehrt Essstörungen.“ Die psychischen Auffälligkeiten, sie würden sich nun anders äußern, „da hat sich viel angehäuft.“

Sven Lütkehaus macht eine einfache Rechnung auf: „Wir sehen das aus unserer Erwachsenensicht, aber für eine Neunjährige oder einen Neunjährigen macht die Zeit der Corona-Pandemie ein Drittel seines Lebens aus, für eine 15-Jährige oder einen 15-Jährigen ein Fünftel.“ Viele der jungen Menschen sind seiner Ansicht nach „abgekoppelter als früher, aber nicht komplett abgekoppelt“.

Und nun, nach dem Wegfall der Hilfen, wird es finanziell wieder enger, das berichten Gertz und Franke unisono. „Dass es nun nicht mehr weitergeht, ist einfach nur frustrierend“, zeigt sich Claudia Gertz enttäuscht. Die Diplom-Pädagogin spielt an auf das Aktionsprogramm „Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche“: Zwei Milliarden Euro für die Jahre 2021 und 2022 hatte die Bundesregierung dafür zur Verfügung gestellt. Geld, mit dem sie auch in Gelsenkirchen gut etwas anfangen konnten.

Aufholen nach Corona in Gelsenkirchen: „Jetzt geht der Rückwärtsgang wieder los“

Jugendarbeit gerät in Zeiten knapper Kassen unter erheblichen finanziellen Druck. Das war schon vor der Pandemie so. Mit den Jahren begegneten Susanne Franke und ihrem „multiprofessionelles Team“, wie sie es nennt, immer mehr, immer neuere Anforderungen. Schule könne das gar nicht auffangen, es gehe immer um junge Menschen, denen Susanne Franke und ihre Kollegen auf Augenhöhe begegnen und ein gelingendes Aufwachsen unabhängig von der Herkunft und den Verhältnissen ermöglichen wollen. „Jetzt geht der Rückwärtsgang wieder los“, schildert die Diplom-Sozialarbeiterin ihre Befürchtungen – vergangenes Jahr, da hätten sie eine angemessene Personalsituation gehabt, konnten so Kräfte vertraglich binden, die zu anderen Zeiten wahrscheinlich nie hätten finanziert werden können.

Dabei sei die offene Kinder- und Jugendarbeit doch unverzichtbarer Partner von Schule, bietet Hausaufgabenbetreuung, Bildungsbegleitung, Freizeitaktivitäten, die Möglichkeit, Essen wie ein oft so fehlendes Frühstück – die Liste, sie ließe sich noch weiter fortführen. Doch von Planungssicherheit ist man in Gelsenkirchen weit entfernt. „Das kann die Stadt nicht, das wissen wir auch“, sagt Susanne Franke. Unsere drei Gesprächspartner richten ihren Blick auf die Landes-, und Bundesebene.

Appell aus Gelsenkirchen: „Wir müssen erreichen, dass wir anders behandelt werden“

„Wir müssen erreichen, dass wir hier anders behandelt werden“, fordert Claudia Gertz. Denn natürlich gebe es einen Unterschied zwischen Städten, die beispielsweise im Münsterland liegen, und Gelsenkirchen. „Wir bräuchten jetzt eine gute Ausstattung, um wieder angemessene Bedingungen zu schaffen“, so Gertz weiter. „Ich bin seit 40 Jahren im Job, es ist immer irgendeine Krise, man muss aber so ausgestattet sein, dass man reagieren kann.“

Gertz, Franke und Lütkehaus, sie wünschen sich mehr Anerkennung von denen, die am weitesten weg sind – und meinen damit die Berliner Politik. Sven Lütkehaus macht das mit einem Bild deutlich: Die Verantwortlichen, sie sollten für eine Stadt wie Düsseldorf allein die Gießkanne nutzen, in Gelsenkirchen hingegen den Feuerwehrschlauch. „Ich wünsche mir für die außerschulische Bildungsarbeit mehr Verbindlichkeit und bessere Planbarkeit“, sagt Claudia Gertz. Susanne Franke bringt es am Ende auf den Punkt: „Wir haben hier ganz wunderbare Kinder, die es verdient haben.“

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