Gelsenkirchen. Der Druck ist riesig, die Zahl der Fälle zu hoch, Verzweiflung mache sich breit. Eine Mitarbeiterin des Gelsenkirchener Jugendamtes schlägt Alarm

„Für uns hat sich kaum etwas verbessert, es ist einfach zu viel“, sagt eine Mitarbeiterin des Gelsenkirchener Jugendamtes, die sich der WAZ Gelsenkirchen anvertraut und hofft, „dass es endlich Abhilfe gibt.“ Noch immer sei die Zahl der Fälle, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) zu bewältigen hätten, viel zu hoch. „Wir können so weder den Kindern und Familien noch uns selbst gerecht werden“, sagt die verzweifelte Sozialarbeiterin, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will, weil sie fürchtet, andernfalls mit ihrem Arbeitgeber Ärger zu bekommen.

Wie zugespitzt die Lage im Gelsenkirchener Jugendamt sei, hatten Ende März 2022 bereits auch weitere Mitarbeiterinnen des ASD gegenüber der Redaktion geschildert. „Wir löschen nur noch Brände, einen nach dem anderen“, sagten die Sozialarbeiterinnen. Präventiv arbeiten, mit Familien zu arbeiten, bevor die Situation eskaliert – das sei kaum möglich. 70 bis 90 Fälle türmen sich auf dem Tisch eines jeden Mitarbeiters. Bei den meisten „Fällen“ handelt es sich um ganze Familien. Experten empfehlen eine Fallzahlgrenze für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im ASD von 28 bis 40, eine gesetzlich festgelegte Obergrenze gibt es aber nicht.

Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter des Gelsenkirchener Jugendamtes schlagen Alarm

Schon damals klagten die Jugendamtsmitarbeiter, dass die Maßnahmen die bis dahin getroffen wurden, um die Streetworker zu entlasten, nicht ausreichend seien. Sie seien „unwirksam bis unverschämt“. Abhilfe erhoffte sich die Stadtverwaltung im vergangenen Jahr durch die Ausschreibung von zusätzlichen Verwaltungsstellen, die die pädagogischen Fachkräfte entlasten sollen, durch die Umbesetzung zusätzlicher pädagogischer Kräfte aus anderen Bereichen der Verwaltung in den ASD, durch die Reaktivierung ehemaliger Jugendamtsmitarbeiter für beratende Tätigkeiten, durch die Einrichtung von drei Plätzen in einem Dualen Studium der Sozialen Arbeit und durch die teilweise Ausgliederung von Aufgaben wie der Trennungs-/Scheidungsberatung an freie Träger.

Dass nun abermals eine Mitarbeiterin des Sozialdienstes Alarm schlägt, weil die Belastung und deshalb die Fluktuation bei den Mitarbeitenden zu hoch sei, mag auch daran liegen, dass die Stadt gar nicht so schnell unbesetzte Stellen nachbesetzen kann, wie sie gerne möchte. Wie in vielen anderen Bereichen auch konkurriert Gelsenkirchen bei diesem Thema mit vielen anderen Kommunen um neues Personal.

Erst im Dezember 2022 hatte Jugendamtsleiter Wolfgang Schreck mit Blick auf die kommenden Wochen gesagt, dass man mit Jahresbeginn „ein paar Sorgen weniger“ haben werde. Zum 1. Januar 2023 konnte elf neuen Kräften ein Einstellungsangebot beim ASD unterbreitet werden. Die Zahl der unbesetzten Stellen sollte somit auf nur noch fünf schrumpfen, während es im vergangenen Frühjahr noch 20 waren.

„Das ist alles natürlich gut und schön, aber selbst bei einer Vollbesetzung ist die schiere Menge an Fällen kaum zu bewältigen“, klagt eine Sozialarbeiterin. Die bisher avisierten Maßnahmen, um die Jugendamtsmitarbeiter zu entlasten, seien „schlicht nicht ausreichend“. Nicht wenige ihrer Kolleginnen und Kollegen seien „ausgebrannt“ und würden mit dem Gedanken spielen, Gelsenkirchen zu verlassen. „Auch ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte. Dabei kann ich mir eigentlich nicht vorstellen, meine Arbeit in einer anderen Stadt zu machen, weil wir hier gebraucht werden“, sagt die erschöpfte Frau. Ihre Worte klingen dabei wohl bekannt. Im März 2022 erklärten ihre Kolleginnen: „Wir arbeiten mit Menschen, die unsere Hilfe vielfach dringend brauchen. Es geht um Schicksale, nicht selten um die körperliche Unversehrtheit und das Seelenheil vieler Kinder. Diese Arbeit ist bei allem Elend und Leid, das wir sehen, auch sehr erfüllend – jedenfalls wäre sie es, würden wir nicht so verheizt.“