Gelsenkirchen. Welche unkonventionellen Maßnahmen Gelsenkirchens Gemeinden ergreifen, um Gläubige vor Kälte in eisiger Kirche zu schützen. Wie Organisten leiden.
Beten und bibbern – oder wegbleiben? Das ist derzeit die Frage für Gläubige vor dem Kirchenbesuch. Wegen explodierender Energiekosten haben viele Gemeinden die Heizungen so weit heruntergedreht, dass einstellige Raumtemperaturen keine Ausnahme mehr sind. Wer an Gottesdiensten live vor Ort teilnehmen möchte, der muss ein gutes Immunsystem haben oder ausreichend warm gekleidet sein. Auch wenn die Verantwortlichen mancherorts zum Schutz vor der Kälte zu unkonventionellen Maßnahmen greifen.
„Maria, breit den Mantel aus“: Das bei Katholiken beliebte Marienlied, es wirkt angesichts der frischen Temperaturen rund um den Altar wie ein Flehen um wärmende Textilien. Tatsächlich wird diese Bitte erhört: Die St.-Urbanus-Pfarrei hat 200 Decken angeschafft, in die sich die Gläubigen hüllen können. Wem das aus hygienischen Gründen nicht ganz geheuer ist, der kann auch seine eigene mitbringen.
Bis vor wenigen Tagen galt in Gelsenkirchener Pfarrei noch: Nicht mehr als fünf Grad
Knackige fünf Grad kalt war es noch bis vor einigen Tagen in den Kirchen der Pfarrei, genau wie es das Bistum Essen empfohlen hatte. Davon ist man jedoch mit sinkenden Außentemperaturen abgerückt. „Eine Task Force arbeitet schon seit Wochen an dem Thema“, so St.-Urbanus-Sprecher Ludger Klingeberg. Für St. Urbanus hat sie sich bis auf weiteres auf eine Mindesttemperatur von zwölf Grad verständigt. „An den anderen Kirchenstandorten entscheiden die Verantwortlichen in den Gemeinden, wie intensiv geheizt wird, auch damit die Orgeln, das Inventar und die Gemälde keinen Schaden nehmen.“
Nicht nur in der St.-Urbanus-Kirche liegen Decken aus, die als größtes Gotteshaus der Pfarrei besonders schlecht (und teuer) zu beheizen ist. Auch in den anderen vier Gotteshäusern sind sie verfügbar. Wer auf Nummer sicher gehen und keine Erkältung riskieren möchte, ist aber gut beraten, vorsichtshalber in Thermo-Unterwäsche zu schlüpfen. Im Ski-Anzug zur heiligen Messe statt auf die Piste: Putins Angriffskrieg auf die Ukraine macht’s nötig.
St. Hippolytus in Gelsenkirchen weicht auf „Winterkirche“ in Pfarrzentrum aus
In St. Hippolytus ist man derweil seit einigen Wochen auf die sogenannte „Winterkirche“ im viel kleineren Pfarrzentrum in Horst ausgewichen. Die maximale Raumtemperatur von zehn Grad Celsius war den Verantwortlichen doch zu eisig. „Der benachbarte Pfarrsaal für bis zu 130 Personen lässt sich deutlich leichter beheizen“, erläutert Verwaltungsleiter Ralf Berghane.
Am Standort Liebfrauen in Beckhausen ist das so nicht möglich: Das marode Gemeindehaus ist längst geschlossen und, wie berichtet, samt Kirche an einen Investor verkauft. Deshalb werde das Gotteshaus bis zum Abschlussgottesdienst am 8. Januar noch moderat geheizt, so Pastor Bernd Steinrötter. Abschied nehmen in eisiger Kälte: Nein, das will er den Gläubigen nicht zumuten.
Sitzheizung: Gelsenkirchener Pfarrei St. Augustinus ist fein raus
Fein raus ist dagegen St. Augustinus in der Altstadt. Die Propsteikirche hat vor einigen Monaten eine Sitzheizung installieren lassen. „Der Betrieb ist mit drei bis vier Euro pro Stunde relativ günstig. So ist es für uns keine Frage der Kosten, sondern eher der Verantwortung in der Energie- und Klimakrise, wie intensiv wir heizen“, berichtet Verwaltungsleiter Peter Schmidt-Kuhl.
Was die übrigen Gotteshäuser von St. Augustinus ohne Sitzheizung angeht, wo „aktuell um die acht Grad herrschen“, verweist er auf Bayern und Südtirol. „Dort gibt’s in den allermeisten Kirchen gar keine Heizung. Das wissen die Leute und ziehen sich dick genug an.“ Durch den Wechsel von Stehen, Sitzen und Knien seien Katholiken im Gottesdienst ja auch mehr in Bewegung als Protestanten, fügt er hinzu.
Gelsenkirchener Protestanten heizen Gotteshäuser auf 16 Grad
Ob Letztere deshalb kälteempfindlicher sind? Jedenfalls hat sich der Evangelische Kirchenkreis Gelsenkirchen und Wattenscheid „aus Verantwortung für die Gläubigen und für das Klima“ für einen „Kompromiss“ entschieden. „Wir heizen unsere Gotteshäuser auf 16 Grad, nur Wattenscheid belässt es bei zwölf Grad“, teilt Sprecherin Jutta Pfeiffer mit.
Diese Regelung sei durchaus „eine Gratwanderung“ wegen der schlechten Klimabilanz der großen Gebäude, in denen sich nur relativ wenige Gemeindeglieder versammelten, räumt sie ein. „Aber wir wollen die Leute nicht wegschicken“ oder gar vergraulen. Deshalb sei man überein gekommen, die Gottesdienste kürzer zu gestalten und neue, knappere Formate anzubieten. Nach Weihnachten, so die Planungen im Evangelischen Kirchenkreis, soll’s zur „Winterkirche“ in die Gemeindehäuser gehen, um Energie zu sparen.
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Stille Nacht, frostige Nacht? Ob die Gläubigen den Text des beliebten Weihnachtsliedes spontan abändern, bleibt abzuwarten. Die Verantwortlichen von St. Hippolytus und St. Urbanus betonen jedenfalls, dass die heiligen Messen an den Weihnachtsfeiertagen so festlich wie vor der Corona-Pandemie stattfinden sollen – in den Kirchen, wohlgemerkt. Diese würden dann – ebenso wie zu den Konzerten – spürbar besser geheizt als bei normalen Gottesdiensten. Für viele Besuchende sicher auch eine Art Bescherung.
Organist Böckmann versucht, mit Hilfe einer Heizdecke wenigstens etwas aufzutauen
Eisige Füße, klamme Finger: Was die Andacht des Kirchenvolks beeinträchtigt, erschwert Organisten wie Carsten Böckmann von St. Urbanus massiv die Arbeit. Rund eine Stunde muss er mitunter auf der zugigen Empore mehr oder weniger bewegungslos verharren, bei Chorproben gar mehrere Stunden. „Bei einstelligen Temperaturen helfen auch Thermo-Unterwäsche und eine dicke Jacke nur noch bedingt, zumal ich mit Handschuhen nicht spielen kann“, berichtet der Propstei-Kantor.
Um nicht völlig einzufrieren und wegen einer dicken Erkältung – wie bereits einige Kollegen – auszufallen, hat sich Böckmann nun eine Heizdecke zugelegt. „Die hilft mir, in Orgelspielpausen wenigstens etwas aufzutauen“, erzählt er, durchaus ein bisschen neidisch auf die Infrarot-Heizung seines St.-Augustinus-Kollegen Wolfgang Ballhausen.
Doch Heizdecke hin oder her: Die Kälte kriecht Böckmann trotzdem in die Finger – und wird auch die Auswahl der Stücke in den Weihnachtsgottesdiensten beeinflussen. „Die Besucher können sich zwar wie sonst auf großartige Musik, auch mit Chor, freuen. Aber so virtuos wie sonst werden die Stücke wohl nicht werden.“