Gelsenkirchen. Der Medikamentenmangel sorgt für viel Chaos – bei Ärzten und Apothekern, aber auch Patienten. Doch die seien auch selbst schuld, sagt ein Arzt.
Die Grippewelle ist auch über Gelsenkirchen mit Wucht hereingebrochen. Ärzte und ihre Teams ächzen nach drei harten Corona-Jahren unter dem neuerlichen Ansturm. Das Durcheinander in den Wartezimmern und die langen Schlangen vor den Praxen werden allerdings noch verstärkt durch ein weiteres massives Problem: den akuten Medikamentenmangel.
Gelsenkirchener Apothekensprecher zu Fiebermittel und Antibiotika: Regale sind leer
„Die Regale der Großhändler sind leer gefegt, die Pharma-Industrie kann oft nicht produzieren, es herrscht derzeit das reinste Chaos“, sagt Christian Schreiner, Sprecher der Gelsenkirchener Apotheken. Das bestätigt auch Simon Kirchberg, Vorsitzender des hiesigen Ärztekammerbezirks. Ihre Botschaft: Insbesondere bei den gerade jetzt zur Grippesaison notwendigen Arzneiprodukten wie Antibiotika und Fiebermitteln schauen Ärzte- wie Apothekerschaft in die Röhre. Und natürlich die Patientinnen und Patienten.
Schreiner und Kirchberg sparen nicht mit harscher Kritik am System. Die Pharma-Industrie, die grundlegende Wirkstoffe wieder in Europa produzieren lassen wollte, habe es bei der reinen Willensbekundung belassen. „Passiert ist bislang nichts“, so das Duo unisono. Rund 70 der Produktionsorte von für Europa bestimmten Wirkstoffen liegen im kostengünstigeren Asien. Die Auswirkungen zeigten sich jetzt überdeutlich.
Als Beispiel nannten Schreiner und Kirchberg Ibuprofen- und Paracetamol-Säfte, beides schmerzstillend und fiebersenkend, oder das Antibiotikum Penizillin. Cholesterinsenker wie der Wirkstoff Rosuvastin (Fettstoffwechselerkrankungen) fehlten aber ebenso wie der Blutdrucksenker Bisoprolol. Nicht anders sähe es bei Buscopan plus aus, ein Präparat, das Frauen häufig bei Regelschmerzen verwenden. „Die Liste ist lang, sehr lang“, so Schreiner.
Absurdistan: Fehlende Pack- und Schmiermittel verhindern Auslieferung und Produktion
Rund 1000 Medikamente sind laut dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte aktuell von einem Lieferengpass betroffen. Mitunter muten die Folgen dessen geradezu absurd an. „Kindernasenspray kann nicht ausgeliefert werden, weil es beispielsweise an Primärpackmitteln fehlt“, spiegelt Christian Schreiner die Hiobsbotschaften wider, die er von Großhändlern erhält.
Dahinter verbergen sich nichts anderes als kleine Fläschen mit dem entsprechend fein gearbeiteten Aufsatz für kleine Nasenlöcher. Ein anderes Beispiel: „Da steht die Tablettenproduktion still, weil es an Schmiermittel fehlt, damit sich die Pillen aus der Pressform lösen lassen“, so der Apotheker weiter.
Die Möglichkeiten, auf Alternativen umzusteigen, sind laut Schreiner begrenzt. „Man kann zwar anstatt Saft auch Zäpfchen oder Tabletten verabreichen, der Wirkstoffengpass macht aber auch diesen Umweg endlich“, sagt der Sprecher. Wenn Arzneimittel und Medikamente nachgeliefert würden, dann in so geringen Mengen, dass die kleinen Kontingente im Nu schon wieder verschwänden.
Reise nach Jerusalem: Patienten pendeln zwischen Arzt und Apotheker hin und her
Mit den Folgen sind Apotheker und Ärzte täglich konfrontiert: Patientinnen und Patienten, Mütter und Väter schlagen „ebenso genervt wie verzweifelt mehrfach bei uns auf“, berichten Christian Schreiner und Simon Kirchberg aus ihrem Alltag. Wieder vorstellig werden sie alle, weil sie ihre Ärztinnen und Ärzte bitten, ein anderes Medikament zu verordnen. „Locker bis zu zehn Mal am Tag“, sagt Kirchberg.
Das ist mit einem hohen Aufwand verbunden, und das gleich in zweierlei Hinsicht. Für die Apotheken, bei denen nicht selten „wie schon Anfang 2020 eine stundenlange Suche und Anfragerei“ beginnt, ob und welcher Großhändler über die gewünschten Alternativen verfügt. „Denn das machen ja alle.“
Und für die Ärzte, deren Sprechstunden aus allen Nähten platzen. Zumal sie „nach wie vor für Erkrankungen der oberen Atemwege gesonderte Sprechzeiten einrichten müssen“, wie der Kammerbezirksvorsitzende erklärt. Geschuldet sei diese Vorschrift noch der langen Corona-Pandemie. Jetzt, wo Grippe und Erkältungen auf dem Vormarsch sind, wirkt sich das besonders negativ aus. „Organisatorisch ist das eine Katastrophe“, so Simon Kirchberg. Und medizinisch ist es ebenso ein Problem. „Das bakterientötende Penizillin ist schlecht lieferbar, deshalb muss ich Breitbandantibiotika verschreiben, die haben aber mehr Nebenwirkungen“, führt der Mediziner weiter aus.
Gelsenkirchener Arzt: Jugend wird weichgespült, Eltern fehlt es an Selbstständigkeit
Neben dem Verständnis für die Sorgen der Patientenschaft mischt sich auch neuer Ärger. Der Kinderarzt und Pneumologe Christof Rupieper geht mit der aktuellen Patientengeneration hart ins Gericht: „Die Jugend wird weichgespült, von Selbstständigkeit und Selbstverantwortung der Erwachsenen ist keine Spur mehr zu sehen.“
„Warum muss es immer Fiebersaft sein?“, ereifert sich der Kinderarzt und fordert mehr Kreativität von Eltern angesichts des Medizinmangels ein. „Ich verstehe nicht, warum Eltern nicht auf die Idee kommen, alternativ eine Tablette zu zerbröseln und aufs, sagen wir mal, Nutella-Brot zu streuen.“ Und bei Halsschmerzen helfe auch dreimal täglich ein Vanilleeis, Wadenwickel und Umschläge bei erhöhter Temperatur.
Überhaupt Fieber, das Thema treibt ihn um. Insbesondere wenn Eltern bereits bei „38,3 Grad direkt Zäpfchen schieben wollen und bei 39 Grad geradezu panisch reagieren“. Rupieper bezeichnet das als „frei flottierende Angst“. „Dass Fieber die natürliche Abwehrreaktion der körpereigenen Immunabwehr ist, vergessen die meisten Menschen heutzutage, sie haben kein Vertrauen und keine Geduld in die Selbstheilungskräfte und drängen dann auf verschreibungspflichtige Medikamente und Arzneien.“ Für den Gelsenkirchener ein Unding. „Kommt nicht gut an, wenn ich so etwas sage, stimmt aber“, ist Rupieper überzeugt.