Gelsenkirchen. Gelsenkirchener Apotheken fehlen hunderte Medikamente, weil Hersteller nicht genug liefern können. Apotheker: „Die Situation ist fürchterlich.“
Ob Schmerzmittel, Blutdrucksenker oder Impfstoffe – seit längerem bekommen Patienten in Apotheken zu hören, dass ihr Medikament nicht vorrätig ist. Apotheker in Gelsenkirchen sprechen längst nicht mehr mehr nur von Lieferengpässen, sondern von einem echten Medikamentenmangel.
Ausgerechnet die Medikamente, die von Ärzten oft verschrieben werden, sind Mangelware in der Apotheke. „Dazu gehören verschreibungspflichtige Schmerzmittel wie Ibuprofen, Blutdrucksenker, Antibiotika und oft sogar Psychopharmaka gegen Angstzustände und Depressionen sowie Mehrfachimpfstoffe für Kinder gegen Masern, Röteln, Mumps und Diphtherie – sie sind nicht zu bekommen“, sagt Christian Schreiner, Sprecher der Gelsenkirchener Apotheker. Für viele Patienten sei das eine große Belastung. Schreiner betreibt mit seiner Frau zwei Apotheken, die Dom-Apotheke und die Falken-Apotheke im Stadtnorden.
Wartezeiten von einem halben Jahr
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Nicht viel besser ergeht es Patienten im Süden, wie das Ehepaar Filiz und Jamal Aoulad Ali berichtet. Den beiden gehört die Alte Apotheke in der Innenstadt. „Aktuell umfasst bei uns die Liste der nicht lieferbaren Medikamente 197 Positionen – Impfstoffe nicht inbegriffen“, erzählen sie. Darunter seien auch Krebsmedikamente, Blutverdünner und Hormonpräparate für Schilddrüsenerkrankungen, um ein paar weitere Beispiele zu nennen. „Teilweise warten wir seit über einem halben Jahr auf Medikamente“, sagt das Apotheker-Paar. Der Computer bei ihrem Kollegen Christian Schreiner reiht am Montag 156 nicht verfügbare Medikamente (ohne Impfstoffe) auf, die Liste des Gesundheitsministeriums umfasst 258 Posten – die Impfstoffe einmal mitgezählt, wächst diese Zahl sogar auf 662. Weit über dem, was der Apothekersprecher grob überschlagen hatte: „Um die 500.“
Die Apotheker versuchen das Beste aus der Situation zu machen. Allerdings ist das Spektrum an Alternativen begrenzt. Am Beispiel eines Schmerzmittels lässt sich das veranschaulichen. Verordnet der Arzt das verschreibungspflichtige Schmerzmittel Ibuprofen 800, lässt sich der Lieferengpass umgehen, indem der Patient zwei Tabletten Ibuprofen 400 einnimmt. Die sind frei erhältlich. Schlechter für das eigene Portemonnaie, aber im Zweifelsfall eine Hilfe in der Not.
Forderung: Kassen sollen Vertragsabschlüsse ausweiten
Laut Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) ist ein Lieferengpass als eine über zwei Wochen hinausgehende Unterbrechung einer üblichen Auslieferung oder eine deutlich erhöhte Nachfrage, die das Angebot übersteigt, definiert.
Ein Versorgungsengpass liegt vor, wenn Alternativarzneimittel nicht zur Verfügung stehen. Daher sprechen die hiesigen Apotheker aufgrund „von bis zu einem halben Jahr Wartezeit schon von einem Medikamentenmangel“. Apothekensprecher Christian Schreiner und das Apotheker-Paar Aoulad Ali fordern deshalb, dass die Kassen Rabattverträge mit deutlich mehr Herstellern schließen, um das Manko zu beheben.
Der Improvisationsspielraum ist aber begrenzt, denn die Krankenkassen überprüfen Rezept und Herausgabe – bei Abweichungen kann die Kasse die Erstattung eines Arzneimittels verweigern. „Stückelungen über Mengen und Dosis sind nicht mehr erlaubt“, erklärt Apothekensprecher Schreiner.
Also behelfen sich Christian Schreiner sowie Filiz und Jamal Aoulad Ali damit, Ersatzpräparate zu finden, die den oder die gleichen Wirkstoff(e) enthalten, Generika genannt – die Apotheker stoßen aber auch da an Grenzen. Denn die Kassen „schließen Rabattverträge mit Medikamenten-Herstellern ab. Ist es nur einer, sind Alternativen erneut Mangelware.“ Über Rabattvertragspartnerschaften binden Krankenversicherungen einzelne Produzenten von Medikamenten an sich, um Kosten zu sparen. Im Gegenzug für große Abnahmemengen bekommen die Versicherten, also die Patienten, Medikamente dieses Herstellers.
Apotheker lassen geänderte Rezepte für Kunden sogar abholen
Verschärft wird die Situation dadurch, dass die meisten Wirkstoffe inzwischen außerhalb der EU produziert werden – bis zu 80 Prozent. Viele davon in Indien und China, beispielsweise Antibiotika. Und auch noch dadurch, „dass Deutschland kein Hochpreisland für Arzneimittel mehr ist“, sagt Christian Schreiner. Heißt: Die zu erzielenden Margen sind „in Großbritannien, Irland, Belgien und Österreich“ deutlich größer. Die Aussicht auf größeren Gewinn dürfte demnach so manche Medikamenten-Charge aus Fernost an Deutschland vorbei laufen lassen.
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Um den Patienten zu helfen, wenden Schreiner, das Ehepaar Aoulad Ali und viele andere Apotheker in Gelsenkirchen viel Zeit auf. Täglich führen sie „dutzende Telefonate mit Arztpraxen, damit Patienten andere Medikamente verschrieben werden, die Rezepte entsprechend geändert werden“, erzählen sie. Nicht selten lassen sie die Rezepte sogar abholen, wenn der Arzt in der Nähe niedergelassen ist, um den „wachsenden Frust der Kunden“ nicht noch größer werden zu lassen. Ein Mehraufwand, der nicht vergütet wird.