Forschungsobjekt Kurt-Schumacher-Straße: Razan Karadaghi arbeitet für ihre Masterarbeit im Problemviertel. Das ist ihr Ziel, das ihre Vision.
Sie birgt einen Heimatbegriff, sie ist die „Hauptschlagader“ der Stadt, abschnittsweise geschmückt von Blauem Band, die Verbindung zwischen Nord und Süd – und seit einiger Zeit das Ziel des studentischen Wirkens einer einzelnen Frau: die Kurt-Schumacher-Straße. Razan Karadaghi, in Gelsenkirchen aufgewachsen, in der Autonomen Region Kurdistan im Irak geboren, beschäftigt sich für ihre Masterarbeit mit der wichtigsten Verkehrsachse der Stadt. Und bezieht die Menschen, die dort leben, mit ein, fördert aktive Teilhabe – für eine andere, „moderne, neue Form der Stadtgestaltung“.
Gelsenkirchen: Wie geht die Kurt-Schumacher-Straße der Zukunft?
Razan Karadaghi studiert „Städtebau NRW“ an der Technischen Hochschule Köln. Die 31-Jährige kam mit ihrer Familie Mitte der 90er-Jahre aus dem Irak nach Deutschland, nach Stationen in Düren und Bochum fanden sie neue Heimat in Gelsenkirchen. Sie besucht die Grundschule an der Kurt-Schumacher-Straße, legt ihr Abitur an der Gesamtschule Berger Feld ab. Diese Stadt ist ihre Heimat, auch und gerade wegen ihrer Forschung.
Wir treffen die junge Frau in Schalke-Nord, in der Straßenschlucht, die die Kurt-Schumacher zwischen die Häuserfronten schlägt. Es ist laut, warm, viele Autos, wenig Raum. Die Kurt-Schumacher-Straße erinnere sie ganz konkret an eine Autobahn, umgeben von Räumen, die eigentlich anders genutzt werden könnten. Das will Razan Karadaghi mit ihrer Forschung ändern.
Wohlgemerkt: Ihr sei schon bewusst, dass sich etwas tue, etwas getan werde, etwa durch das Engagement der Stiftung Schalker Markt oder des Vereins „Anno 1904“, der ganz aktuell am neuen Vereinssitz an der Schalker Meile die Nachbarschaft gestalten will. Oder dass eine Menge Geld investiert wird – durch das 60-Millionen-Euro-Entwicklungsprojekt „Schalke-Nord neu denken“. Ziel des Projektes: Bis 2028 soll der, so Kritiker, „vergessene Stadtteil“, in Teilen saniert, umgebaut, vor allem aber „neu erfunden“ werden. Angsträume und Problemimmobilien sollen verschwinden, neue Freiräume entwickelt werden, der Verkehr für Radler und Fußgänger optimiert, der Stadtraum neu geordnet werden.
Gelsenkirchen: Für die Forschung ist die gesamte Kurt-Schumacher-Straße im Fokus
Doch für Razan Karadaghis Arbeit steht eben nicht nur ein einzelner Stadtteil, sondern die Kurt-Schumacher-Straße in ihrer Gesamtheit im Fokus. Sie sieht die Nord-Süd-Achse bei ihrer Forschung als großes Ganzes, mit unterschiedlichen Prägungen, Bebauungen, Gestaltungen. Was ist ihre Vision? „Dass man zusammenarbeitet, dass alle gehört werden, deren Leben die Kurt-Schumacher-Straße betrifft“, erklärt die junge Frau. Razan Karadaghis Frage, ganz analog zu ihrer Arbeit im Studium: Wie sieht der Verkehrsraum von morgen aus?
Fachlich gesehen will sie mit ihrer Arbeit eine so genannte „Phase Null der Stadtplanung“ aktivieren, einen Begriff, den der Verein Baukultur NRW geprägt hat. Die Frage, die dahinter steht: Wann beginnt Stadtplanung? Mit dem Dialog mit den Menschen, mit der Frage nach ihren Wünschen und Bedürfnissen, noch bevor der einzelne Stadtraum überhaupt geplant wird, ist die Antwort, die eben nicht nur Razan Karadaghi gibt, sondern mit ihr auch weitere Stadtplanungsexperten.
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Die 31-Jährige ist dabei eine Forscherin, erkundend unterwegs: „Wie schätzen Kinder und Jugendliche ihr städtisches Umfeld ein? Wo befinden sich die Lieblingsorte und wo die nicht so schönen Orte oder Angsträume“, fragt sie etwa.
Razan Karadaghi hat das Schalker Fanprojekt hinzugeholt, mit kreativen Aktionsrunden sind sie Unterstützer, Ideengeber, tragen Teil dazu bei, dass Entwicklung stattfinden kann: „Hier liegt ein Riesen-Potenzial im Stadtteil“, ist Friedrich Schellhase, Fan-Sozialarbeiter beim Schalker Fanprojekt, überzeugt. Und auch davon: „Wir dürfen nicht an den Leuten vorbeiplanen.“
Gelsenkirchen: Für die Zukunft der Kurt-Schumacher-Straße gestalten die Menschen mit
Es geht den beiden – und all den anderen Menschen, die gerade mitgestalten dürfen – auch um Würde und Wertschätzung. Diese Begriffe definiert die angehende Architektin so: „Das Selbstbewusstsein muss wieder her, dass die Menschen sagen können, was ihnen fehlt.“ Friedrich Schellhase dreht es um: „Wichtig ist, dass ihre Stimme gehört wird. Dass sie Perspektiven aufgezeigt bekommen, dass Dinge auch umgesetzt werden.“ Er verstehe die „gewisse Müdigkeit bei den Menschen“.
Und was sagen die, die es angeht? Erste Ergebnisse aus einer Umfrage gebe es bereits, so Razan Karadaghi. Vorgreifen will sie ihrer eigenen Arbeit nicht, doch schon jetzt gebe es klare Tendenzen. Es sei eine „allgemeine Überforderung“ zu spüren. Um zu beschreiben, was die Leute ihr sagen, was sie fühlen, nutzt sie ein ganz passendes Bild: „Es ist, als hätte man ein gemeinsames Wohnzimmer, doch es gibt ein paar, die die Regeln nicht kennen.“
Gelsenkirchen: Mehr bürgerliche Beteiligung an der Kurt-Schumacher-Straße
Was die Teilhabe angehe, sei in einigen Stadtteilen noch einiges nachzuholen, so die Masterandin. Ihre Forderung an Politik und Verwaltung: „Die bürgerliche Beteiligung muss als ernsthaftes Instrument berücksichtigt werden.“ Dazu gehört auch, den Kleinsten zuzuhören. Wir sind wieder in Schalke-Nord. Neben dem großen Loch, dass das ehemalige Gebäude der Grundschule Kurt-Schumacher-Straße hinterlassen hat, werden provisorisch Schulpausen auf dem Spielplatz verbracht. In Sichtweite liegt eine Dixi-Toilette auf der Seite, auf der Grünfläche drumherum und sowieso auch auf dem Spielplatz achtlos weggeworfener Müll.
Razan Karadaghi ist mit Bekime Tafili und ihren Schülern aus der Klasse 2d der Grundschule Kurt-Schumacher-Straße verabredet. Die Grundschullehrerin sagt klar: „Es fehlt an allem“, und blickt über die Spielplatzfläche, die in diesem Moment doch recht munter von Erst- und Zweitklässlern bespielt wird. Es gebe gerade in diesem Bereich der Kurt-Schumacher-Straße, zwischen A 42 und Berliner Brücke, keine größeren Grünflächen, die nutzbar seien. „Das ist so schade für die Kinder“, sagt Bekime Tafili. Sie wünscht sich, dass noch einmal in den Blick genommen wird, woran es gerade diesem Ort fehlt.
Die Kurt-Schumacher-Straße – unterteilt in sechs Bereiche
Für ihre Arbeit und Forschung hat Razan Karadaghi die Kurt-Schumacher-Straße in sechs Bereiche unterteilt, die ganz unterschiedlich geprägt sind. So steht beispielsweise der Bereich in Höhe Schloss Berge in grünem Unterschied zu dem Bereich zwischen Berliner Brücke und der Brücke der A 42. Die besondere Grenze bilden Emscher und Kanal.
Neben der Zusammenarbeit mit dem Schalker Fanprojekt und der Grundschule Kurt-Schumacher-Straße gibt es auch noch eine mit der Gesamtschule Berger Feld. Unterstützung erhält die 31-Jährige auch von der Baukultur NRW und dem Kunst-Kultur-Mobil „Kukumo“. Im Rahmen einer Hausarbeit während ihres Master-Studiums beschäftigte sich Razan Karadaghi bereits mit der Entwicklung der Bochumer Straße.
Den Abgabetermin für ihre Masterarbeit hat Razan Karadaghi längst im Blick: Am 21. September muss sie fertig sein – mit ihrer Ausarbeitung. Mit der Kurt-Schumacher-Straße aber noch lange nicht: Die junge Studentin will immer wieder zurückkehren, hofft auf ein „Echo“, auf Reaktionen auf ihre Arbeit.