Gelsenkirchen. Grund zum Feiern: 1896 gründet sich der Bürgerschützenverein Erle-Middelich. Was den Zusammenhalt ausmacht – und warum Frauen mitmischen dürfen.
Die Geschichte von Bürgerschützenvereinen ist ja meist durchgehend von Männern geprägt. Und so sind es wohl auch einige honorige Herren aus dem Ortsteil, die 1896 zusammenkommen, den Bürgerschützenverein Erle-Middelich zu gründen. Jedoch: Verhältnismäßig früh sind die Damen nicht mehr ausschließlich dekorativer Anhang der Grünröcke bei großen Festivitäten. In den Zeiten des gesellschaftlichen Umbruchs in den 1960er Jahren gründet sich 1966 die Frauengruppe des Vereins. Seit Beginn der 70er Jahre dürfen sie sogar mitschießen - und holen seither regelmäßig beim Schützenfest den hölzernen Vogel von der Stange. Betrachtet man die anderen Vereine der Region, ist das bis heute keine Selbstverständlichkeit.
Gelsenkirchener Bürgerschützen: In Erle-Middelich wird Tradition und Gleichheit gelebt
Über die ersten Jahre der Vereinsgeschichte sind kaum Informationen übermittelt. Fest steht nur, die Erler sind fast spät dran. Andernorts floriert das Schützenwesen bereits. So, wie man es den Erlern über Jahrzehnte nachsagt, genießen sie aber das Vereinsleben umso mehr, gestalten viele gemeinsame Abende, kleinere und größere Feiern auch abseits der Schützenfeste. Auch das übrigens hat sich bis heute gehalten.
Die goldenen Jahre des BSV Erle-Middelich beginnen in den 50ern. Immer größer wird die Zahl der Mitglieder und auch die der Abteilungen. Man hat mittlerweile eine Reiterstaffel, mehrere Kompanien, einen Spielmannszug. „Wir hatten in den besten Zeiten über 400 Mitglieder“, weiß Harald Tondorf. „Während des Schützenfestes im Jahre 1952 fand erstmalig am Dienstag ein Kinderfest statt. Über eintausend Kinder, unter anderem auch der stattliche Erler Kinderchor, haben an diesem Fest teilgenommen. Ein Ponywagen aus dem Ruhr Zoo führte die Kinderschar durch den Ortsteil Erle an”, erzählt der Pressesprecher des Vereins weiter.
Auch davon, dass zwar immer gesagt wird, der ganze Stadtteil habe mitgefeiert. Bekanntlich gibt es aber ja immer solche, die die allgemeine Begeisterung nicht teilen: „Ein Kuriosum sei hier nicht vergessen. Aus Protest gegen das Festzelt und die Kirmes auf der Jakobschen Wiese (heute Wittenberger Straße) läuteten am Freitag eine halbe Stunde lang die Glocken. Die evangelische Kirche glaubte sich in ihren Andachten gestört. Aber die Schützen wissen doch, was sich gehört. Zu den Zeiten des Gottesdienstes ruhte der gesamte Musikbetrieb innerhalb und außerhalb des Festzeltes.“
Tradition und Moderne bei den Erler Schützen: Sie feiern 125-jähriges Bestehen
Kurioses bietet auch die interne Vereinsgeschichte. Nach der Gründung der zweiten Kompanie steht 1956 das Schützenfest zum 60. Geburtstag an. „Da sandte die 1. Kompanie dem Führer der 2. Kompanie ein Täubchen. Im beiliegenden Erpresserbrief war zu lesen, dass die 1. Kompanie nicht beabsichtigte, den Königsvogel zu rauben, wenn die Taube mit einem Lösegeld, sprich Biermarken, aufgelassen würde. Das Täubchen wurde mit der Lösegeldsummer entlassen. Und der Fall wurde in Erle auch noch zu späteren Zeiten viel belacht.”
+++ Sie wollen keine Nachrichten aus Gelsenkirchen verpassen? Dann können Sie hier unseren kostenlosen Newsletter abonnieren +++
Die 70er Jahre bringen dann die erwähnte Zeitenwende. Die Frauen dürfen mitmischen. Und das tun sie fortan auch. Es ist die Zeit, als Gundula Masuth zum Verein stößt. „Ich hatte vorher noch nie etwas vom Schützenverein gehört. Obwohl ich in Erle wohnte. Aber ich hatte eine Bekannte, die nahm mich mit zum Schützenfest. Ich weiß noch gut, sie sagte zu mir: Wenn ich morgen Königin werde, wirst du meine Hofdame. Am nächsten Tag rief sie mich auf der Arbeit an und sagte: Du musst schnell ins Festzelt kommen. Da bin ich schnell hin.” Bald schon steht die junge Frau an diesem Montag, der ihr Leben prägen soll, auf der Bühne. „Da bin ich ins kalte Wasser geschmissen worden.”
Der Schock jedoch hält sich in Grenzen. Zwei Jahre später beginnt Gundula Masuth selbst mit dem Schießen. Sie ist erfolgreich, heimst viele erste Preise im Sportschießen ein. Am Vogelschießen jedoch nimmt sie nie teil. „Ich hatte keinen Partner dafür.” Ihr Mann teilt die Liebe für das Schützenwesen nicht.
Ob sie tatsächlich erfolgreich gewesen wäre, das kann natürlich keiner wissen. Zumal es dann doch noch bis 1994 dauern soll, bis Margret Pöppel die erste Frau in der Vereinsgeschichte ist, die den Vogel abschießt. Nun, da der Bann gebrochen ist, folgen ihr noch mehrere andere Frauen im Amt der selbstgeschossenen Königin des BSV Erle-Middelich.
Lesen Sie mehr Nachrichten und Hintergründe aus Gelsenkirchen:
- Neubauprojekt Diese Eigenheime sollen im Gelsenkirchener Norden entstehen
- Müll Ärger in Gelsenkirchen: Gelbe Tonnen quellen über
- Gedenken Synagoge Gelsenkirchen: Frei.Wild-Sänger ausgeladen
Bis in die 70er Jahre ist es das Schützenhaus Holz, das Herz und Mittelpunkt des Vereinslebens ist. Dann aber wird es abgerissen. Der Verein findet 1980 an der Cranger Straße eine neue Heimat: ein eigenes Haus. Oben ist der Schießstand untergebracht, unten ist ausreichend Platz in Saal und Garten für ein lebendiges Vereinsleben. Bis heute. Zum Jahresende nämlich ist damit Schluss. Die Pacht kann nicht mehr ohne Probleme aufgebracht werden, die Energiekosten steigen auch hier ins Unbezahlbare. Dass die Schützen coronabedingt zwei Jahre lang alle Aktivitäten ruhen lassen mussten und somit kein Geld einnehmen konnten, tut sein Übriges.
Auch hier hat das Vereinsleben einen Bruch erlebt, muss nun kontinuierlich wieder aufgebaut werden. Maßgeblich übrigens von den Frauen. „Man muss heute etwas anbieten, kleine und größere Aktivitäten, man muss die Menschen locken, sonst kommt eben auch keiner”, sagt Doris Kopania-Tondorf, die Schatzmeisterin. Sie weist gen Fenster. Dahinter, im Garten, ist an diesem sommerlichen Freitagabend der Grill angeschmissen worden, heben ein paar Traditionsschützen das bevorstehende Schützenfest aus der Taufe.
- Wir taggen GElsen: Videos und Bilder aus Gelsenkirchen finden Sie auch auf unserem Instagram-Kanal GEtaggt. Oder besuchen Sie die WAZ Gelsenkirchen auf Facebook.
Noch ein Beispiel: „Das Ottenfest.” Was das ist? „Da bringt jeder eine alte Otte mit, also etwas, das man nicht mehr gebrauchen kann”, sagt Doris Kopania-Tondorf und lacht. Es werde ausgeknobelt, wer was erhält. “Man glaubt nicht, wie sich manche um ein Teil fast kloppen.” Das Fest mit 30-jähriger Tradition im Club sei ausgesprochen beliebt. „Dann ist die Hütte voll hier”, sagt Thomas Timpert, der Vorsitzende.
Erler Schützen feiern an zwei Wochenenden
Wie bereits seit einigen Jahren feiern die Erler Schützen nicht mehr in einem (teuren) Festzelt, sondern an zwei Wochenenden und mittlerweile sogar in unterschiedlichen Städten.
Los geht es am Samstag, 27. August, um 10 Uhr mit einer Messe in der Kirche St. Barbara an der Cranger Straße. Um 12 Uhr beginnt dann das Vogelschießen – auf der Anlage der Westerholter Schützen an der Kuhstraße in Herten.
Die Inthronisierung des neuen Königspaares findet am Samstag, 3. September, ab 18 Uhr in der Aula der Gesamtschule Erle an der Mühlbachstraße statt. Der Eintritt ist frei. Alle Interessierten sind willkommen.
Dass „seinem” Verein demnächst ein echter Umbruch bevorsteht, weiß er gut. Der Umzug in den Keller der Schule an der Surkampstraße markiere in jedem Fall einen Neubeginn. Einen, der hoffentlich gut gehe. Aber der Schütze ist optimistisch. Mit den rund 145 Mitgliedern stehe der Verein in der Region recht gut da. Allein, es fehlt an Schützen-Nachwuchs. Ein Problem, für das man in Erle noch keine Lösung hat. Aber man will es angehen. Demnächst. Nun nämlich steht erst einmal das Schützenfest an zum 125. Geburtstag. Klar, wer rechnen kann weiß, hier wird coronabedingt nachgefeiert. Dafür aber soll es umso ausgelassener werden.