Gelsenkirchen. Wie schafft man es von Gelsenkirchens Süden in den Hamburger Kultursenat? Carsten Brosda ist das gelungen. Wie er seine Heimatstadt heute sieht.
- Vorbild für den Kulturmanager Brosda war Gelsenkirchen Ex-Kulturdezernent Hans-Peter Rose
- Brosda: Industriebauten als Zentren wiederbeleben, aber nicht „musealisieren“
- Die Hochschule stärker in die Stadt einbinden
Dr. Carsten Brosda, 1974 in Gelsenkirchen geboren, verheiratet, zwei Kinder, promovierter Kultur- und Kommunikationswissenschaftler, unter anderem ehemaliger Referatsleiter im Bundesarbeitsministerium, seit 2017 – also bereits unter Olaf Scholz – Kultursenator in Hamburg, seit 2019 Vorsitzender des Kulturforums der Sozialdemokratie und seit 2020 Präsident des Deutschen Bühnenvereins.
WAZ: Herr Brosda: Was ist Gelsenkirchen heute für Sie, aus der Fernsicht betrachtet?
Dr. Carsten Brosda: Der Ort, an dem ich aufgewachsen bin, und zwar an der Wilhelminenstraße 135. Ich habe in Gelsenkirchen gelebt, bis ich 22 Jahre war, bin in der Feldmark zur Grundschule und dann auf das Grillo-Gymnasium gegangen.
Gelsenkirchen ist ein Ort, der bei einem bleibt. Vor einigen Wochen ist zum Beispiel das Buch „Lenin auf Schalke“ erschienen (eine Ost-West-Betrachtung in Roman-Gestalt), das habe ich mir natürlich gleich besorgt. In gewisser Weise ist Gelsenkirchen für mich auch noch Heimat.
Was macht Gelsenkirchen in Ihren Augen liebenswert? Ist es das für Sie überhaupt?
Für mich persönlich ist Gelsenkirchen auf jeden Fall liebenswert. Gelsenkirchen ist natürlich eine von den Städten, die einen nicht zwingend im allerersten Moment wohlig warm umfangen, wenn man neu ankommt. Man sieht es ihr auch an, wie sehr sie kämpfen muss um ihre Position und ihre Stellung. Aber der Umstand, dass sie das tut und dass Menschen in dieser Stadt sind, die sich sehr, sehr, sehr für diese Stadt einsetzen, das ist etwas, was mir immer wieder auch nachhaltig sehr imponiert.
Tatsächlich bin ich früher sehr geprägt worden durch eine enge Freundschaft meines Vaters zu dem damaligen Schul- und Kulturdezernenten Hans-Peter Rose, der 25 Jahre lang, bis zum Jahre 2000, die Kultur in der Stadt verantwortet hat. Die Art und Weise, wie er sich damals um die Kultur gekümmert hat, ist etwas, das für mich bis heute prägend ist. Und wenn er mir heute immer noch hin und wieder eine E-Mail schickt mit Hinweisen zu diesem und jenem, dann finde ich das schon immer sehr schön, weil mir das auch hilft. Daran merke ich: Da sind Menschen in der Stadt, die sich auch von widrigen Umständen nicht unterkriegen lassen. Das ist ja etwas, was Gelsenkirchen auch ausmacht. Dass man immer im Schatten der größeren Städte drumherum steht, und ein bisschen genauer darauf achten muss, dass man sich behauptet. [Lesen Sie auch: Wer die Ampel bei den Vorgesprächen verhandelt hat]
Was könnte Gelsenkirchen besser machen? Wo könnte die Stadt besser werden?
Es ist immer sehr wohlfeil, von außen gute Vorschläge zu machen. Aber es gibt eine Sache, über die verfügt Gelsenkirchen, über die viele andere Städte nicht mehr zwingend verfügen, und das ist Platz. Die Kehrseite des Umstandes, dass Gelsenkirchen im letzten halben Jahrhundert von 380.000 Einwohnern immer weiter geschrumpft ist, bringt mit sich, dass das eine oder andere an Infrastruktur noch da ist und anders genutzt werden könnte. Wenn ich hier in Hamburg mit Kreativen und Künstlern über ihre Lebensbedingungen spreche, dann kommt man sehr schnell darauf, dass man hier kaum noch bezahlbaren Wohnraum findet, sich das Leben in der Stadt kaum leisten kann. Das kann Gelsenkirchen anbieten. Da ist die Frage: Wie schafft man es, Kreative anzuziehen, um eine andere Dynamik hineinzubekommen in die Stadt. Das spricht sich so leicht aus, das ist mir klar. Das ist für eine Mittelstadt nicht so einfach. Aber das sollte man vielleicht noch stärker ins Bewusstsein bringen. Es gibt hier die Möglichkeit, in urbanen Strukturen zu leben, ohne dass das so unfassbar teuer sein muss wie in Köln.
Also ist richtig, was die Stadt in Ückendorf tut, wo das Kreativquartier nach Kräften gefördert wird?
Unbedingt.
Macht es denn Sinn, in der Region und auch in Gelsenkirchen weiter auf Industriekultur zu setzen?
Ja! Das hat die Internationale Bauausstellung, die ich ja noch in Gelsenkirchen erlebt habe, sehr gut befördert. Es hat schon deshalb Sinn, weil diese ganzen Industrieflächen das Zentrum der Stadtteile bilden. Die Städte im Ruhrgebiet sind ja um die Industrieanlagen herum entstanden, die haben quasi die frühere Rolle der Kirche und des Marktplatzes eingenommen. Als dann in den 80er Jahren die Anlagen zugemacht wurden, waren da diese verbotenen, toten, leeren Räume in der Mitte der Stadtviertel. Diese wieder zu öffnen und erlebbar zu machen und die Industriearchitektur mit neuem Leben zu füllen, finde ich schon aus Identifikationsgründen unglaublich wichtig. Weil so ein Stadtviertel auf einmal wieder ein Zentrum hat, in dem man sich anders begegnen kann.
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Auf der anderen Seite macht mich diese Öffnung aber auch melancholisch, weil sie so drängend ins Bewusstsein ruft, dass das Orte waren, an denen früher Zehntausende Menschen Arbeit gefunden haben. Man spürt, was dort fehlt. Insofern muss man sehr aufpassen, dass man nicht bei der Melancholie hängenbleibt. Es muss darum gehen, dass etwas Neues wachsen und entstehen kann, das dann auch wieder Identität schafft.
Man sollte die Orte nicht nur öffnen und musealisieren, sondern beleben. Das ist an einigen Orten ja bereits gelungen. Auf Zollverein etwa, aber auch auf dem Consol-Gelände in Bismarck, soweit ich das von hier aus beurteilen kann. Da ist ja neues Leben eingezogen.
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Sie fördern in Hamburg nicht nur die etablierte Hochkultur, sondern auch die freie Kultur durchaus großzügig. Läuft das in Gelsenkirchen auch gut?
Ich kenne die aktuelle Förderstruktur in Gelsenkirchen nicht. Ich weiß nur, dass zu meiner Zeit Orte für die freie Szene im Aufbau waren und Unterstützung von mehreren Seiten bekamen, etwa die Flora und die Kaue, Letztere war ja quasi bei mir nebenan. Aber ich finde es wirklich sehr bemerkenswert, dass es Gelsenkirchen über die Jahrzehnte trotz aller Probleme geschafft hat, sich das Musiktheater im Revier zu erhalten, als eigenständiges Haus, das ist eine große kulturpolitische Leistung.
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Was ist das Beste an Hamburg?
Ich mag Städte, die in die Welt rausgucken. Hamburg hat eine Dynamik, eine Kraft, sich immer wieder neu zu erfinden und zu entwickeln. Das gefällt mir. Aber das gilt ja auch für das Ruhrgebiet. Es gibt einen schönen Satz über Berlin. Das sei eine Stadt, die niemals ist, aber immer wird. Das ist zwar anstrengend, weil sie niemals fertig ist. Aber das ist das Schöne an Städten: Sie entwickeln sich immer weiter. Da ist in Gelsenkirchen ja sicher die Westfälische Hochschule auch ein wichtiger Faktor, dass auch studentisches Leben nicht nur in Bochum stattfindet. Die WH gab es zu meiner Zeit ja noch gar nicht.
WAZ: Leider findet studentisches Leben in Gelsenkirchen nicht wirklich statt. Die Hochschule ist nur sehr bedingt in die Stadt eingebunden bislang.
Das muss man weiter versuchen. Ich drück die Daumen dafür. Und viele Grüße an Gelsenkirchen!