Gelsenkirchen. Mehr als 200 Kinder nahm das Jugendamt in Gelsenkirchen im Vorjahr in Obhut. Aktuell sind es 78 – ein Anzeichen für ein hartnäckiges Problem.

Bei Kindeswohlgefährdungen sind Inobhutnahmen die schärfsten Maßnahmen, die von Amtswegen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen greifen. Immer dann, wenn es zu Hause, wie wohl jüngst noch im Fall von zwei vermissten Geschwistern, ein schwerwiegendes Problem gibt, schreitet das Jugendamt ein. Also wenn Kinder und Jugendliche verwahrlost sind oder vernachlässigt werden, wenn sie Opfer von Missbrauch oder anderen Straftaten sind, werden sie aus ihren Familien herausgeholt und zum Schutz anderweitig untergebracht.

207 Kinder in Gelsenkirchen 2021 in Obhut genommen – 78 Mal im 1. Halbjahr 2022

Inobhutnahmen von Kindern und Jugendlichen in Gelsenkirchen
Inobhutnahmen von Kindern und Jugendlichen in Gelsenkirchen © funkegrafik nrw | Jill Starke

Im vergangenen Jahr hat es in Gelsenkirchen 207 Inobhutnahmen gegeben, das meldet das Statistische Landesamt. Im Jahr davor waren es 211 und 2013 lediglich 151. Dazwischen gab es ein Auf und Ab, die Zahlen pendelten um die 200er-Marke, wobei unter anderem der Syrienkrieg zu Sondereffekten geführt hat, weil unbegleitete minderjährige Flüchtlinge ebenso in die Statistik eingeflossen sind. Gleiches gilt für den Ukraine-Krieg – aktuell gibt es 28 minderjährige Kinder aus der Ukraine in Obhut.

„Gelsenkirchen ist vergleichsweise unauffällig“, sagt Wolfgang Schreck, der Leiter des Gelsenkirchener Jugendamtes. Auch die aktuellen Zahlen bestärken ihn in seiner Meinung: In den ersten sechs Monaten dieses Jahres habe es 78 Inobhutnahmen gegeben. Schreck sagt dies allerdings in dem Wissen, dass in seinem Amt mehr als 20 Stellen seit langem unbesetzt sind und die Mitarbeitenden die Situation im Jugendamt wegen dauerhafter Überlastung jüngst erst noch als „gefährlich“ eingestuft haben. O-Ton aus der Belegschaft: „Wir sind am Limit.“

In mehr als 70 Prozent der Fälle lag eine akute oder latente Gefährdung vor

In mehr als 70 Prozent der Fälle der vergangenen fünf Jahre lag eine sogenannte Gefährdung von Kindern und Jugendlichen vor – entweder latent oder akut. Das heißt, ihr „körperliches, geistiges oder seelisches Wohl“ war bereits erheblich geschädigt oder dies war zu erwarten – beziehungsweise die tatsächliche Kindeswohlgefährdung konnte demnach nicht ausgeschlossen werden.

Der Diplom-Psychologe Wolfgang Schreck leitet das Gelsenkirchener Jugendamt.
Der Diplom-Psychologe Wolfgang Schreck leitet das Gelsenkirchener Jugendamt. © Michael Korte

Die Inobhutnahmen erfolgen mit Einverständnis der Eltern durch das Jugendamt, bei nicht vorhandener Kooperation geschieht das auf richterliche Verfügung hin – die Polizei leistet in solchen Fällen auch Amtshilfe. Am vergangenen Donnerstag erst hat das Jugendamt laut Schreck zuletzt das Gericht angerufen.

Grundsätzlich sind die Ursachen von Kindeswohlgefährdungen vielfältig und lassen sich nicht nur auf coronabedingte Einschränkungen zurückführen. „Beziehungskrisen innerhalb der Familie, Vernachlässigung oder auch Überforderung der Eltern spielen ebenso eine große Rolle“, sagt Schreck zu den Gründen, warum von behördlicher Seite eingegriffen worden ist (siehe Grafik). Dabei begünstigen Armut oder auch ein unsicherer Aufenthaltsstatus solche Entwicklungen. Auch riefen Kinder selbst das Jugendamt an, weil sie mit den Erziehungsmaßnahmen ihrer Eltern nicht zufrieden seien.

Dauerhaft im Heim oder im Kreis einer Pflegefamilie landen daher nicht alle Kinder aus Inobhutnahmen. Vielfach kommen sie Schreck zufolge bei Verwandten – den Großeltern, bei Patenonkel und -tante – unter und stießen nach kurzer Zeit wieder zu ihren Eltern, sobald sich die Lage entspannt hat. Oder die Mädchen und Jungen bleiben gleich zu Hause, während den Eltern Sozialarbeiter und andere Fachkräfte zur Seite gestellt werden, um im Alltag und bei der Erziehung der Kinder zu helfen.

Gesellschaft sensibler geworden beim Thema Kindeswohlgefährdung

Darüber hinaus sei erkennbar, dass in den vergangenen Jahren die Sensibilität der Gesellschaft beim Thema „Kindeswohlgefährdung“ zugenommen habe, so Schreck weiter, und entsprechend mehr Verdachtsfälle gemeldet werden. Die Missbrauchsfälle von Lüdge haben dazu beigetragen.

Kindeswohlgefährdung: Hier gibt es Hilfe

Gelsenkirchen nimmt im landesweiten Vergleich von 427 Kommunen bei Inobhutnahmen von Kindern und Jugendlichen Rang 35 ein. Die Statistiker haben dazu den Anteil der Bevölkerung im Alter von unter 18 Jahren herangezogen und die Anzahl der Inobhutnahmen ins Verhältnis zur Anzahl je 1000 Personen der gleichaltrigen Bevölkerungsgruppe gesetzt. Spitzenreiter demnach ist Olpe.

Eine Vielzahl an Hilfen und Unterstützungsangeboten im Zusammenhang mit Kindeswohlgefährdungen bieten das Familienbüro der Stadt Gelsenkirchen (Ebertstraße 20, 0209 169 6900, Mail an: familienbuero@gelsenkirchen.de) und der städtische Sozialdienst (Zeppelinallee 9-13, 0209 169 4646 sowie unter den Endziffern -4657, -9418, -2178, -5487, -9416, -9325, ) an.

Der Jugendamtsleiter nennt als Beispiel detailliertere Zahlen aus 2020: 1478 Fälle von Kindeswohlgefährdungen sind seiner Behörde gemeldet worden, 548 Mal leisteten Mitarbeitende tatsächlich Hilfestellung, 584 Mal konnten die Hinweise nicht mit Beweisen belegt werden und 346 Mal bestätigte das Amt eine Gefährdung. Demnach lassen sich durch das Jugendamt Gefährdungen vielfach nicht nachweisen.

Das Beispiel zeigt allerdings auch, dass die Zahlen von IT.NRW sich nicht zu 100 Prozent mit den Zahlen decken, die die Stadt veröffentlicht. Für 2020 listen die Landesstatistiker 211 Inobhutnahmen in Gelsenkirchen auf, in 165 Fällen lag eine Gefährdung vor. „Aber nicht jede Gefährdung zieht eine Inobhutnahme nach sich“, so Schreck abschließend. In den internen Statistiken würden für die Gefährdungseinstufung andere Maßstäbe angesetzt, als es IT.NRW bei seiner Auswertung tue.