Gelsenkirchen. Jugendamt, Kita, Sozialarbeit: Hilferufe der Beschäftigten in Gelsenkirchen lassen Schlimmstes erahnen. Warum sie von OB Welge enttäuscht sind.

Am internationalen Frauentag waren sie bereits zu Hunderten in Gelsenkirchen und zu Zehntausenden bundesweit auf die Straße gegangen – die Beschäftigten in den Jugendämtern und dem Erziehungsdienst. Nur eine Woche später, am Dienstag (15. März), versammelten sich erneut Abgesandte der Berufsgruppen auf dem Heinrich-König-Platz, um laut und unmissverständlich auszusprechen, was sie eigentlich gerne im zeitgleich tagenden Kinder-, Jugend- und Familienausschuss im Rathaus vorgebracht hätten: „Wir sind am Limit!“

Doch coronabedingt sei ihnen kein Rederecht im Ausschuss gewährt worden, klagen etwa 50 Verdi-Mitglieder an diesem Nachmittag. Und sie warnen eindringlich und drastisch: „Die Situation im Gelsenkirchener Jugendamt ist gefährlich.“

Viele offene Stellen im Jugendamt Gelsenkirchen – Mitarbeitende warnen vor schlimmen Folgen

Nach Angaben von Mitarbeitenden des hiesigen Jugendamtes – die ihren Namen wie alle anderen Streikenden an diesem Nachmittag lieber nicht in der Zeitung dokumentiert wissen wollen – bestehen im Gelsenkirchener Jugendamt aktuell 20 Vakanzen. Die Stadt bestätigt dies und rechnet gar 21,75 unbesetzte Stellen vor, weil schon „seit langem ein Mangel an Fachkräften bei gleichzeitigem umfangreichen Angebot an freien Stellen“ Realität sei.

Ähnlich klingt es auch aus den Berichten der Mitarbeiter hervor: „Es herrscht schon seit Jahrzehnten kein auskömmlicher Personalschlüssel. Das zulässige Maß von 40 Wochenarbeitsstunden wird dauerhaft überschritten, Überlastungsanzeigen sind die Folge. Aktuell haben weitere vier Kolleginnen und Kollegen Kündigungsabsichten, weil sie die Belastung nicht ertragen“, berichten Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter.

Und sie berichten davon, dass 70 bis 100 zu bearbeitende Fälle pro Mitarbeiter in Gelsenkirchen die Regel und nicht die Ausnahme seien. „Das sind 70 bis 100 Familien, in denen teilweise vier oder fünf Kinder leben. Amts-intern seien indes 38 Fälle pro Mitarbeiter angestrebt, und ihrer Verantwortung gerecht werden könnten die Jugendamtsmitarbeiter eigentlich nur bei bis zu 23 Fällen pro Kopf.

„Die Fallzahlen haben sich in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdoppelt. Es fehlt Zeit für Vor- und Nachbereitung sowie für dringend notwendige Vernetzungsarbeit. Präventive Arbeit und ausreichende Dokumentation zum Eigenschutz ist nicht mehr möglich“, berichtet ein engagierter, aber besorgter Mitarbeiter.

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Dass dabei Kinder und Familien notwendige Hilfen mitunter Monate zu spät und im schlimmsten Fall nicht mehr rechtzeitig bekommen, sei in Gelsenkirchen angesichts der Personalsituation „Realität“. Die Beschäftigten in den verschiedenen Bereichen der sozialen Arbeit in der Stadt sind sich einig: Gerade für eine sozial schwache Stadt wie Gelsenkirchen, in der Zehntausende Familien von relativer Armut betroffen sind und es darüber hinaus auch sonst noch viele integrative Herausforderungen gibt, sei die Unterbesetzung im Jugendamt, dem Bezirkssozialdienst und den Kindertagesstätten eine schwere Hypothek.

Im Durchschnitt fehlten in der Stadt pro Kita drei Fachkräfte, rechnet eine Kita-Leiterin vor. Die Stadt erklärt auf Nachfrage dazu, dass aktuell rund 8 Prozent beziehungsweise 100 von 920 Stellen (Erzieherinnen/Erzieher, Kinderpflegerinnen/Kinderpfleger, u.a.) im pädagogischen Bereich unbesetzt sind. Der Personalschlüssel sei ausreichend und richte sich nach den Vorgaben des Kinderbildungsgesetzes und ist somit gesetzlich geregelt.

Das sehen die Beschäftigten ganz anders: „Verschärft wird die Situation durch Eigenkündigungen aufgrund von Überlastung, demografischer Struktur und dem mangelnden Nachwuchs. Keiner will nach Gelsenkirchen. Die Folge ist eine ständige interne Umschichtung, die wiederum andernorts Lücken reißt“, weiß eine erfahrene Erzieherin zu berichten. Und sie ergänzt: „Der Fachkräftebedarf ist in Gelsenkirchen besonders hoch, weil hier aufgrund der Sozialstruktur mehr Aufgaben übernommen werden müssen. Es handelt sich nicht mehr um Einzel-Integration: Komplette Gruppen benötigen Sprachförderung und Sprachbildung, Inklusion und Integration. Das alles müssen wir zusätzlich leisten. Wir können nicht mehr. Deshalb streiken wir für die Kinder, für die Familien, für eine Perspektive und nicht auf dem Rücken der Kinder, wie bereits böswillig geunkt wurde.“

Diese Erklärung richten die Streikenden vor allem in Richtung Oberbürgermeisterin Karin Welge und der Vereinigung der Kommunalen Arbeitgeber (VKA), deren Präsidentin Welge ist. Stein des Anstoßes – vor allem für die Erzieherinnen und Erzieher bei Gekita – ist die Aussage Welges, „Erzieherinnen und Erzieher bei einem kommunalen Träger sind de facto die in Relation zu ihrer Ausbildung am besten verdienende Beschäftigtengruppe mit einer mindestens dreijährigen Berufsausbildung. Beispielsweise erhalten Erzieherinnen und Erzieher mit einer Berufserfahrung von acht Jahren rund 3800 Euro monatlich und dazu noch die betriebliche Altersversorgung sowie etwaige Leistungsentgelte“.

Dem widersprechen die Erzieherinnen und Erzieher auf dem Heinrich-König-Platz vehement. „95 Prozent der Erzieherinnen bei Gekita erhalten weniger, als Frau Welge vorrechnet, die in der Tabelle wohl verrutscht ist. Tatsächlich liegen die Gehälter für eine vergleichbare Tätigkeit in technischen Berufen zwischen 130 Euro und 270 Euro höher als die einer Erzieherin. Die Berufsabschlüsse sind dabei absolut vergleichbar“, so eine Gewerkschafterin.

Enttäuscht von Oberbürgermeisterin Karin Welge

Dass ausgerechnet Gelsenkirchens Oberbürgermeisterin in ihrer Rolle als VKA-Präsidentin den Beschäftigten in der sozialen Arbeit gewissermaßen ein ausreichend hohes Gehalt attestiert und die Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen damit ablehnt, sei für die Beschäftigten hier „ein herber Schlag ins Gesicht“, so ein Betroffener. Es seien vor allem die Kommunen gewesen, die in der Hochzeit der Pandemie „die Systemrelevanz“ der Erzieherinnen und Erzieher betont und den Mitarbeitenden Beifall gespendet hätten. „Doch Klatschen allein reicht nicht. Entlastet uns, schafft mehr Stellen und macht unsere Berufe durch angemessene Gehälter attraktiver, damit sich auch wieder mehr Fachkräfte auf die offenen Stellen bewerben“, lautet die zentrale Forderung, die über den Platz bis hinüber ins Hans-Sachs-Haus hallt.

Die nächste Verhandlungsrunde zwischen den Gewerkschaften und der VKA ist für den 21. und den 22. März in Potsdam geplant. Sollte es dabei zu keiner Einigung kommen, sind weitere Streiks bereits in der kommenden Woche sehr wahrscheinlich.