Gelsenkirchen. Vater Bergmann, Mutter Analphabetin: Der Gelsenkirchener Ilhan Bükrücü musste sich in der Schule immer durchbeißen. Heute hat er 300 Angestellte.

Die einen reagieren entsetzt, die anderen sind frustriert oder schämen sich: Die Bemerkung „nicht versetzt“ auf dem Zeugnis, sie lässt niemanden kalt, wie die Sommer-Serie „Ehrenrunde: Kein Weltuntergang“ dokumentiert. Ilhan Bükrücü, der im Mittelpunkt der dritten Folge steht, war jedoch war völlig überrascht, als sein Vater beim Lesen des Dokuments eher zufällig feststellte: „Der Junge geht ja noch mal in die erste Klasse!“

Denn dass dem Siebenjährigen eine Ehrenrunde drohte, davor hatte niemand die türkische Familie gewarnt. Immerhin: Ihm erging es damit besser als dem älteren Bruder: Der war vom Vater kurzerhand im Urlaub bei Verwandten in der Türkei gelassen worden aus Sorge, bei der Schulanmeldung in Gelsenkirchen etwas falsch zu machen. „Mein Bruder musste sich ohne Nestwärme bei der Familie unseres Onkels durchbeißen. Da hatte ich es besser!“

Gelsenkirchener Bükrücü konnte bei Schulaufgaben niemand helfen

So bewertet der Geschäftsmann (54) aus Buer seine „Vertragsverlängerung“ in der Grundschule im Rückblick denn auch nicht nur als „verlorenes Jahr“, sondern auch als Chance. Es hätte schließlich schlimmer kommen können! [Zum Thema:Gelsenkirchen: Rocker & Sitzenbleiber wird Lehrer mit Profil]

Sich durchzubeißen: Das musste freilich auch der kleine Ilhan lernen. Zwar in Deutschland geboren, war es für den Sohn eines buerschen „Gastarbeiters“ im Bergbau und einer Hausfrau dennoch alles andere als einfach, in der Schule Fuß zu fassen. „Mein Vater hat nur zwei Jahre Grundschule absolviert, meine Mutter war Analphabetin. Mir konnte niemand helfen“, erzählt Bükrücü.

Warum er die erste Klasse wiederholen musste, weiß Ilhan Bükrücü nicht

Es waren seine (deutschen) Mitschüler, die ihn motivierten, auch weil er mithalten wollte. „Ich ging nach der Schule oft zu ihnen nach Hause und machte mit ihnen Hausaufgaben, das hat mir sehr geholfen. In den Sonderklassen für türkische Kinder in Schaffrath und später in der Beckeradschule hätte ich mich nicht so richtig in die deutsche Gesellschaft integrieren können.“

Unternehmer aus Buer ist nicht unumstritten

Ilhan Bükrücü engagiert sich seit vielen Jahren politisch in der Gelsenkichener CDU, deren gesundheitspolitischer Sprecher er zeitweise war. 2020 legte er sämtliche Parteiämter nieder und zog auch seine Kandidatur für den Stadtrat zurück, weil er etwa 2015 in sozialen Medien Postings geteilt hatte, die den Völkermord unter der Regierung des Osmanischen Reiches an den Armeniern leugnen. Dabei kamen 1915/16 mehrere Hunderttausend Menschen zu Tode.

Bükrücü selbst erklärte, diese Posts zu „bereuen“ und betonte, die darin zum Ausdruck kommende politische Haltung widerspreche seiner persönlichen Einstellung und seiner politischen Arbeit.

Mittlerweile ist er für die CDU wieder als sachkundiger Bürger im Wirtschaftsförderungsausschuss aktiv.

Woran es im ersten Schuljahr haperte, warum er die Klasse wiederholen musste: Bükrücü weiß es nicht. „Aber danach ging es so gut, dass die Klassenlehrerin 1978 vor dem Wechsel an die weiterführende Schule meinte, ich könnte mit entsprechender Förderung auch das Gymnasium schaffen.“ Die Familie befolgte den Rat, ihn aufs Ricarda-Huch-Gymnasium zu schicken – und der war Gold wert!

„Hippie-Lehrer“ des Gelsenkirchener Ricarda-Huch erteilten privat Nachhilfe

„Dort wurden wir Kinder mit migrantischen Wurzeln ausgesprochen gut gefördert. Wenn die anderen um 13.30 Uhr nach Hause gingen, bekamen wir bis 16 Uhr Förderunterricht, und das jeden Tag“, berichtet Bükrücü. In den Ferien hätten engagierte „Hippie-Lehrer“ vom „Ricarda“ gar Gratis-Nachhilfe gegeben, privat bei sich zu Hause. Kurz: Die Gefahr, erneut eine Ehrenrunde drehen zu müssen, bestand fortan nie mehr für den eher durchschnittlichen Schüler.

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Trotzdem: Das Gefühl, durch die Wiederholung eines Schuljahres etwas aufholen zu müssen, hat Bükrücü nie verlassen. „Ich wollte wohl Abitur machen, aber eine Abkürzung nehmen, um das verlorene Jahr wieder aufzuholen“, erzählt er von seinem Plan, nach der 10. Klasse sich neben seiner Ausbildung zum Krankenpfleger auf dem Abendgymnasium die Hochschulreife zu erarbeiten. „Ich wollte schließlich Medizin studieren.“

Vom Traum, Medizin zu studieren, nahm Ilhan Bükrücü als junger Mann Abschied

Der Job bei der ambulanten Krankenpflege der Caritas und die Begegnung mit vielen „Halbgöttern in Weiß“ brachten ihn jedoch davon ab. „So wie die wollte ich nicht werden.“ Stattdessen machte er sich im Alter von 24 Jahren selbstständig mit einem Pflegedienst und wurde Chef von zwölf Mitarbeitenden – der Anfang für eine Karriere besonders im Gesundheitssektor war gemacht.

Erfolgreich im Leben trotz Ehrenrunde

Jeder kennt jemanden, der nicht in die nächste Klasse versetzt wurde. Welche Spuren dies bei ihm oder ihr hinterlassen hat, wie das Leben für ihn oder sie weitergegangen ist, wissen aber wenige. Stattdessen greift gerne das Klischee des Versagers, der Schule und später wohl auch den Job nicht so richtig auf die Reihe kriegt.

In der neuen Sommerserie spricht die Redaktion mit Betroffenen aus Gelsenkirchen, die trotz – oder gerade wegen – der Wiederholung einer Klasse etwas aus ihrem Leben gemacht haben, erfolgreich sind und als bestes Beispiel dafür dienen: Eine Ehrenrunde ist kein Weltuntergang!

Heute führt der verwitwete Vater von vier Kindern mehrere Firmen mit insgesamt 300 Beschäftigten, darunter das Hotel Zum Schwan in Buer, die Humane Häusliche Krankenpflege, das Autohaus Autopoint in Resse, das Sanitätshaus Medishop GmbH und mit Partnern mehrere Corona-Teststationen.

Verlorenes Jahr durch die Ehrenrunde „zwirbelt“ Gelsenkirchener Bükrücü noch immer

Obwohl er mehr als zufrieden ist mit seinem beruflichen Werdegang: „Es zwirbelt mich noch immer, dass ich im Vergleich zu meinen Mitschülern und Freunden ein Jahr verloren habe. Das hat Blessuren hinterlassen.“ Er habe bisweilen immer noch das Gefühl, „der deutschen Gesellschaft zeigen zu müssen, dass ich es als Arbeiterkind zu etwas gebracht habe“ und spricht von dem Eindruck einer besonderen „Bringschuld“.

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Andererseits habe ihm der harte Weg durch die Schule mit den vielen Anstrengungen auch gezeigt, dass Durchhalten sich lohnt. „Diese Mühen haben mich in meiner Selbstständigkeit nach vorne gebracht“, sagt er. Und: „An sich ist eine Ehrenrunde nichts Schlimmes. Die geht auch vorbei.“ [Lesen Sie auch: Gelsenkirchener Politiker machte nach Ehrenrunde US-Abitur]