Gelsenkirchen. Künstler, Intellektuelle und auch Schüler gehörten zur „Links Opposition” gegen die Nazis. Dieses Schicksal erlitten junge Gelsenkirchener Juden.

Mit ihrem Widerstand gegen die Nationalsozialisten sind die Geschwister Scholl in der ganzen Welt bekanntgeworden. Sie sind sicher die prominentesten jungen Menschen, die sich mutig gegen die Nazis wendeten – die Einzigen aber sind sie nicht. Wie an vielen Orten gibt es auch in Gelsenkirchen ältere Schüler und Studenten, die im Untergrund aktiv sind, über Schriften versuchen, die Menschen aufzuklären und zu warnen vor den dunklen Zeiten, die dem Land bevorstehen. Anders als Hans und Sophie Scholl nämlich werden sie hier bereits 1932 aktiv.

Ende der Weimarer Republik bildet sich die „Links-Opposition”,

Ein Teil derer, die in Gelsenkirchen in den Widerstand gehen, sind Juden. Oftmals jedoch haben sie sich zugunsten ihrer politischen Ideologien von ihrer Religion getrennt. Sie alle eint ihre sehr linke Haltung. In der ausgehenden Weimarer Republik bildet sich in Gelsenkirchen die „Links-Opposition”, zunächst als Opposition in der KPD, später außerhalb der KPD. Man kritisiert den stalinistischen Kurs der Partei. Vielmehr will man ein vereintes Vorgehen aller Arbeiterorganisationen gegen die Nationalsozialisten erreichen.

Es entsteht die Keimzelle für einen trotzkistischen Zweig der Arbeiterbewegung. Sie setzt sich zusammen aus Künstlern, Intellektuellen und jüdischen Schülern, die 1933/34 am Real-Gymnasium Abitur machen.

Schon Mitte der 30er Jahre wird die Gruppe in Gelsenkirchen zerschlagen

Sie alle sympathisieren mit den Thesen des kommunistischen Revolutionärs Leo Trotzki. Er vertritt extreme Positionen, spricht von der „Theorie der permanenten Revolution”. Er ist überzeugt, dass die Arbeiterklasse als einzige konsequente Opposition die Führung übernehmen muss. Sie solle, so die These, durch eine Bodenreform und eine Auslöschung sozialer Stände zu einer Abschaffung von Privateigentum und einer Vergesellschaftung aller Güter führen. Ein Land, eine Region ist dem ultra-kommunistischen Denker dabei nicht genug. Funktionieren könne sein Konzept nur, wenn es die Welt umspanne. Damit macht sich der Hardliner auch im eigenen Land viele Feinde, hat jedoch ebenso überall in der Welt seine Anhänger. Wie in Gelsenkirchen.

Lokale Geschichte wird Besuchern an diversen Hörstationen im O-Ton näher gebracht. In der NS-Dokumentationsstätte in Erle gehört ein sogenannter Volksempfänger zu den Ausstellungsstücken.
Lokale Geschichte wird Besuchern an diversen Hörstationen im O-Ton näher gebracht. In der NS-Dokumentationsstätte in Erle gehört ein sogenannter Volksempfänger zu den Ausstellungsstücken. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

So früh die jungen Männer in den Widerstand gehen, so früh fliegen sie auf. Mitte der 1930er Jahre wird die Gruppe von den Verfolgungsbehörden zerschlagen. Die jungen Männer werden vor Gericht gestellt. Danach entwickeln sich ihre Lebensläufe ganz unterschiedlich. Etliche fliehen, so lange sie noch können. Mitunter sind ihre Geschichten auch deshalb in der Stadt wenig bekannt. Zwei von ihnen sollen daher hier vorgestellt werden.

Die einzige Rettung: Die Fremdenlegion

Adolf Spier wird 1914 geboren. Sein Vater, ein preußisch-deutsch und national denkender Lehrer, beachtet die religiösen Regeln des Judentums streng. Er stirbt 1934, ohne bis dahin die Gefahr, die im Nationalsozialismus liegt, erkannt zu haben. Seine Söhne, Siegfried und Adolf, sehen sie durchaus. Siegfried, der ältere, verlässt Deutschland bereits 1933 und beginnt in Brasilien ein neues, erfolgreiches Leben.

Adolf ist seit 1930 Mitglied des „Jüdischen Schülerbundes”, wendet sich immer mehr der „Links Opposition” zu. Im März 1933 besteht er sein Abitur mit Auszeichnung. Seiner Überzeugung und der antisemitischen Einschränkungen wegen nimmt er sein Studium der Medizin im französischen Dijon auf. In den Semesterferien kehrt er stets zur Mutter in Gelsenkirchen heim. Dabei bringt er für die hiesige trotzkistische Widerstandsgruppe Material mit. Eines Irrtums wegen wird er 1935 verhaftet und im Verhör misshandelt. Danach kehrt er nicht mehr zurück. Seine Mutter verlässt die Stadt ebenso noch vor Kriegsausbruch. Sie reist dem älteren Bruder nach.

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Adolf Spier hingegen wird als Mitglied der „Trotzki Gruppe” in Deutschland polizeilich gesucht. 1936 wird er ausgebürgert. Zurück kann er nicht. In der neuen Heimat Frankreich, wo er bald sein Studium der Medizin abschließt und promoviert, wird es auch zunehmend schwierig. Insbesondere, als die Deutschen Teile Frankreichs besetzen. Er steht auf der Fahndungsliste der einen und gilt den anderen als „feindlicher Ausländer”. Sein Ausweg aus dieser Lage ist abenteuerlich: Er meldet sich „freiwillig” zur Fremdenlegion.

Der Heimat den Rücken gekehrt und im Internierungslager gelandet

Als Legionär jedoch wird er rasch in Nordafrika interniert. Er (über-)lebt von 1940 bis 43 im Internierungslager Comb-Béchar in Algerien, ist Teil einer Zwangsarbeiterkompanie, die beim Bau der Sahara-Eisenbahn zum Einsatz kommt. Erst alliierte Truppen können ihn befreien. Als Arzt tritt er in die britische Armee ein, wird Teil eines Pionierkorps in Französisch-Algerien. Einer Syphilis-Erkrankung wegen, die er sich in Tunesien zuzieht, wird er nach Italien verbracht, wo er das Kriegsende erlebt. 1945 kehrt er für kurze Zeit in die deutsche Heimat zurück, besucht etwa das KZ Bergen-Belsen und macht sich selbst ein Bild von den Gräueltaten der Nazis. Bleiben aber will er nicht. 1948 wird er aus dem britischen Militärdienst entlassen und praktiziert fortan als Arzt in London – als englischer Staatsbürger.

Freizeitorganisation der Arbeiterkulturbewegung: „Die Naturfreunde”

Die Bilder des Erkennungsdienstes aus der Polizeiakte von Werner Goldschmidt sind erhalten geblieben und zeigen den jungen Gelsenkirchener nach seiner Verhaftung 1935.
Die Bilder des Erkennungsdienstes aus der Polizeiakte von Werner Goldschmidt sind erhalten geblieben und zeigen den jungen Gelsenkirchener nach seiner Verhaftung 1935. © ISG

Der bekannteste Name im Zusammenhang mit jungen jüdischen Widerständlern im Dritten Reich in Gelsenkirchen ist Werner Goldschmidt. Er wird 1909 im hessischen Bad Orb geboren. Mit seinen Eltern kommt er kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges nach Gelsenkirchen. Schon als Jugendlicher distanziert er sich vom Judentum, widmet sich stattdessen linkspolitischen Strömungen. Anfang der 1930er Jahre stößt er zum „Touristenverein – Die Naturfreunde”, eine Freizeitorganisation der Arbeiterkulturbewegung und Sammelbecken für jene Linken, die mit den beiden großen linken Parteien, der SPD und der KPD, fremdeln.

Sechs Jahre Zuchthaus für Werner Goldschmidt

Darüber hat der junge Werner Goldschmidt erstmals Kontakt zur „Links Opposition”, wird bald aktives Mitglied, besorgt Material für die Gelsenkirchener Gruppe, reist für sie zu Besprechungen ins Ausland und besucht bereits emigrierte Mitglieder. Als die Gruppe 1935 von den Nazis zerschlagen wird, wird Goldschmidt am Dienstag, 3. Dezember 1935, verhaftet. Vor dem Oberlandesgericht Hamm wird ihm der Prozess gemacht, an dessen Ende er am Freitag, 24. Juli 1936, zu der hohen Strafe von sechs Jahren Zuchthaus verurteilt wird.

Ein besonders hartes Urteil für den jungen Mann. Dessen Ursache ist aber wohl eher, dass Werner Goldschmidt für die Gruppe auch im Ausland aktiv gewesen ist. Seine jüdische Herkunft wird in den Prozessakten zwar erwähnt, ob sie aber strafverschärfend wirkt, ist nicht klar.

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Kurz vor Ablauf seiner Strafe wird er wenige Tage vor Weihnachten, am Freitag, 19. Dezember 1941, aus dem Zuchthaus ins Gelsenkirchener Polizeigefängnis verlegt. Mit seinen Eltern, die trotz der Aufforderung ihres Sohnes Stadt und Land bislang nicht hatten verlassen wollen, wird er „nach Osten abgeschoben”. Ein damaliger Ausdruck, der verschleiern soll, dass es sich um die Internierung in einem Konzentrationslager oder Ghetto handelt. Die Familie Goldschmidt wird zunächst nach Riga verbracht. Dort beginnt der Leidensweg durch mehrere Lager, den die Eltern nicht überleben. Werner Goldschmidt wandert 1947 mit Hilfe seiner Schwester in die USA aus.

Die Warnungen werden auch in Gelsenkirchen nicht gehört

Vor der „Machtergreifung” im Jahr 1933 leben in Gelsenkirchen offiziell 1616 jüdische Menschen. Sie begreifen sich ganz selbstverständlich als festen Teil der örtlichen Gesellschaft. Viele wollen und können die Warnungen weniger nicht glauben. Auch wenn es besonders die jungen jüdischen Menschen sind, die mahnen, die hinweisen auf das, was da kommen kann – und soll. Knapp drei Jahre lehnen sich die Abiturienten und Studenten auf, wollen informieren. Den Lauf der Geschichte können sie nicht aufhalten.

Ende 1944 ist Gelsenkirchen in der Sprache der Nazis “judenfrei”. Nach dem Krieg leben lediglich rund 70 jüdische Menschen in der Stadt.

>>> Die Gedenk- und Dokumentationsstätte in Erle

Die Dokumentationsstätte „Gelsenkirchen im Nationalsozialismus“, Cranger Straße 323, bietet Interessierten vielfältige Informationen zum Thema.

Sie ist nicht nur Raum für Historisches, sie ist auch selbst von historischer Bedeutung: Während der NS-Zeit war das Haus unter anderem Sitz der NSDAP-Ortsgruppenleitung Buer-Erle. Der Besuch der Dokumentationsstätte ist kostenlos. Kontakt: 0209 169-8557.

Weitere Lebensläufe von jungen Widerständlern finden sich auch auf der Seite der Stadt Gelsenkirchen auf der Präsenz des Instituts für Stadtgeschichte unter https://www.gelsenkirchen.de/de/Stadtprofil/Stadtgeschichten.