Gelsenkirchen. Ab Oktober steigt der Mindestlohn. Gelsenkirchener Betriebe reagieren bereits – weil alles teurer wird und sich Fachqualifikation lohnen muss.
Der gesetzliche Mindestlohn für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wird ab 1. Oktober 2022 auf zwölf Euro pro Stunde erhöht. Wie reagieren Gelsenkirchener Betriebe? Und was bedeutet das für die Preisentwicklung? Drei Branchenvertreter geben Auskunft:
Malzers Backstube verändert das Gehaltsgefüge deutlich
Mit dem Mindestlohn, meint Christian Scherpel, Geschäftsführer des Familienunternehmens Malzers Backstube mit Sitz in Erle, habe die Politik „eigentlich die klassische Tarifautonomie ausgehebelt“. Beim Gelsenkirchener Großbäcker mit annähernd 2800 Beschäftigten hat man frühzeitig reagiert. „Lohnsteigerungen von durchschnittlich rund sieben und in der Spitze bis zu 15 Prozent“ und damit „weit über dem klassischen Bäckertarif“ wird das Unternehmen umsetzen. Bislang hat Malzers in der niedrigsten Tarifgruppe (von insgesamt 14) ungelernten Kräften mit 10,18 pro Stunde etwas über Mindestlohn bezahlt. Steigt der Stundensatz ab Oktober auf 12 Euro, übersteigt er die untersten vier Tarifgruppen. Das macht Druck auf die Betriebe. „Fachqualifikation und Ausbildung im dualen System müssen und sollen sich ja weiterhin lohnen“, betont Scherpel. „Wir brauchen das Knowhow in der Produktion. Das Handwerk braucht Fachkräfte.“
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Bereits zum 1. Juli passt Malzers sein Tarifgefüge an, zahlt im Schnitt allen Beschäftigten mindestens einen Euro pro Stunde mehr, erhalten werden ebenso die Verpflegung am Arbeitsplatz und Mitarbeiterrabatte. Angesichts rapide steigender Lebenshaltungs- und Wohnkosten „sehen wir das auch als Verpflichtung unseren Arbeitnehmern gegenüber. Sonst können sie sich das Leben nicht mehr leisten“, sagt der Junior-Chef des Unternehmens. Mit „über fünf Millionen Euro mehr pro Jahr“ wird allein die Lohnsteigerung den Großbäcker belasten. Ungelernte kommen dann auf 13,60 Euro pro Stunde, Fachkräfte im fünften Jahr auf 15,05 Euro.
Die Lohnkosten machen rund 50 Prozent des Brotpreises aus. Die Gehälter sind jedoch nur ein Teil der Preisspirale, die sich für die Branche immer schneller dreht. „Wie auch unsere Beschäftigten sind wir von den Kostensteigerungen für Energie und Kraftstoffe massiv betroffen“, sagt Scherpel. Die Backöfen, die Lkw-Flotte – sie müssen laufen. Hinzu kommen explodierende Rohstoffpreise. Der Preis für Mehl sei um bis zu 150 Prozent gestiegen. „Dinkelmehl kostet jetzt über einen Euro pro Kilo“, sagt Scherpel. „Und dann hat man noch keine Saat, kein Korn dabei.“ Die Steigerungen, steht für Scherpel fest, „können wir nicht 1:1 weitergeben. Das gibt der Markt nicht her“. Doch Preiserhöhungen wird es geben. Scherpel: „Wir schauen gerade, wohin sich das entwickelt.“
Familienunternehmen setzt Expansionskurs fort
Den generellen Expansionskurs, den Malzers verfolgt, wird man in Erle nicht in Frage stellen. „Wir sind unabhängig und strukturstark“, sagt Christian Scherpel. „Das zeichnet den deutschen Mittelstand aus. Wir werden weiter hier in den Standort investieren und bis Ende des Jahres die Anlagentechnik ausbauen.“ Zudem soll das Filialnetz bis Ende des Jahres im Idealfall um weitere zehn Standorte wachsen. Um die 150 sind es aktuell. Der jüngste wurde vergangenen Donnerstag in Westerholt eröffnet.
Dienstleister Amevida hat bereits zu Jahresbeginn reagiert
Prämien sind beim Call-Center-Betreiber Amevida in Schalke ein wesentlicher Erfolgs-Anreiz und Gehaltsbestandteil. Doch auch die finanzielle Basis sollte stimmen: Das Unternehmen hat bereits zum Jahresende 2021 das Fixgehalt auf mindestens 13 Euro pro Stunde angehoben. Die sich anbahnende Mindestlohnerhöhung war damals nicht der Auslöser. „Das war generell ein Thema, mit dem wir attraktiv für unsere Mitarbeiter sein wollen“, sagt Jan Kruse, zuständig für Kommunikation & Marketing bei Amevida. „Damit waren wir Vorreiter in der Branche.“
Der Dienstleister mit insgesamt rund 2200 Beschäftigten vornehmlich an acht Standorten in NRW hat damit auch auf die steigenden Anforderungen reagiert. Kruse: „Der Job ist anspruchsvoller geworden, die Intensität hat zugenommen. Auch sind wir zunehmend multilingual unterwegs.“ Bei Amevida arbeiten Muttersprachler aus über 50 Nationen.
Rund 700 Beschäftigte arbeiten für Amevida an den beiden Gelsenkirchener Standorten an der Kurt-Schumacher- und der Leithestraße. Einen Teil ihres Gehalts verdienen sie über „variable Komponenten“, sprich: Prämien. Die seien bei Amevida „ungedeckelt“
Gelsenkirchener Taxi-Unternehmen beantragen Tarifanpassung
„Mindestens Mindestlohn“ – das gilt bei Taxi Gelsen aktuell und auch künftig für die Fahrerinnen und Fahrer der Branche. Der Vermittlungszentrale sind 53 Unternehmer mit 66 Fahrzeugen angeschlossen. Um die 130 Taxen sind insgesamt in Gelsenkirchen unterwegs. Tendenz sinkend. Taxilizenzen wurden bereits zurückgegeben. Was Fahrer und Unternehmer massiv trifft, sind die steigenden Kraftstoffpreise.
„Das Geschäft leidet immer noch unter den Folgen der Corona-Pandemie. Es wird zwar langsam wieder besser, aber wir liegen immer noch unter dem Niveau von 2019“, sagt Geschäftsführer Erkan Sarial. Doch angesichts der extrem steigenden Spritpreise geht es jetzt für viele Unternehmer längst um die nackte Existenz. Zum Februar 2020 wurde der Taxitarif das letzte Mal in Gelsenkirchen angepasst. Er stieg um durchschnittlich gut sechs Prozent. Der Grundpreis blieb dagegen stabil.
Nun hat die Branche eine deutliche Tarifsteigerung beantragt, über die die Politik zum Sommer entscheiden muss. In zwei Stufen sollen die Tarife bis Anfang 2023 um insgesamt rund 20 Prozent steigen.
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