Gelsenkirchen. Ukrainer im Behörden-Dschungel: Eine Familie darf nicht nach Gelsenkirchen ziehen – obwohl sie ihren Wohnort eigentlich frei wählen darf.
Zuerst bei Freunden oder Bekannten untergekommen, dann auf die Suche nach einer eigenen Wohnung gemacht – gegebenenfalls auch in einer anderen Stadt: Familie Kovalchuks* Situation dürfte für ukrainische Vertriebene nicht allzu ungewöhnlich sein. Doch wer sich als Ukraine-Flüchtling erst an einem Ort anmeldet und dann in eine andere Stadt ziehen möchte, der kann sich schnell wie eine „Flipperkugel im Bürokratie-Automaten“ fühlen, wie es Peter Janssen aus Essen formuliert. In seiner vererbten Gelsenkirchener Wohnung soll Familie Kovalchuk nun seit einem Monat offiziell wohnen. Eigentlich.
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Mitte März, kurz nach Beginn des russischen Angriffskrieges, meldet sich Janssen bei der Stadt Gelsenkirchen mit seinem Wohnungsangebot. Antwort: Die Stadt will sich melden, wenn man Bedarf hat. Doch der 45-Jährige will nicht ausharren, sondern schnell helfen – also schaltet er eine Wohnungsanzeige für Ukrainer online. Innerhalb von zwölf Stunden kommen „rund 30 Anfragen von Ukrainern aus allen Teilen Deutschlands, Polens und der Ukraine mit herzzerreißenden Geschichten“, zeigt sich Janssen noch jetzt überwältigt. Auch Frau Kovalchuk, die mit ihren zwei Söhnen aktuell auf der Couch einer Bekannten nahe Düsseldorf übernachtet, hat Interesse. Sie soll die Wohnung bekommen.
Umzug nach Gelsenkirchen: Ämter der Stadt Gelsenkirchen schätzen Situation erst unterschiedlich ein
Also setzt sich Janssen mit dem Sozialamt der Stadt auseinander. Seinen Schilderungen zufolge teilt man ihm dort mit, dass es kein Problem sei, wenn die Familie nach Gelsenkirchen kommt. Sie müsse sich erst in Gelsenkirchen anmelden, dann werde der Bezug von Sozialleistungen – also auch die Übernahme von Mietkosten für die Gelsenkirchener Wohnung – geprüft. Für eine Anmeldung komme zunächst eine Sammelunterkunft infrage. „Das wäre für Frau Kovalchuk sogar in Ordnung gegangen“, sagt Janssen.
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Anders sieht das laut Janssen allerdings ein Mitarbeiter der Gelsenkirchener Ukraine-Hotline. Es könnte „nicht im Interesse der Stadt liegen, wenn Menschen von einer anderen Stadt in eine Sammelunterkunft ziehen und dabei Kosten verursachen“, zitiert Janssen aus seinen Notizen. Also entscheidet er sich, bereits etwas irritiert über die unterschiedlichen Darstellungen der Stadt, die Wohnung erst einmal kostenfrei zur Verfügung zu stellen und bei einem Besuch am Info-Point an der Emscher-Lippe-Halle Klarheit zu schaffen.
Ukrainerin hat „keine Wohnsitzverpflichtung“ und „kann Wohnort frei bestimmen“
Dort erwarten ihn allerdings keine erfreulichen Nachrichten, wie er weiter erzählt: Ein Mitarbeiter des Ausländeramtes fordert Frau Kovalchuk auf, nicht nach Gelsenkirchen zu kommen. Die Ummeldung sei nicht einfach so möglich. Janssen will sich damit nicht zufriedengeben. Denn in Kovalchuks Aufenthaltsgenehmigung heißt es explizit, sie habe „keine Wohnsitzverpflichtung“ und könne „ihren Wohnort frei bestimmen.“
Doch auch nachdem Janssen den Vorfall noch einmal schriftlich beim Ausländeramt schildert und auf die Aufenthaltserlaubnis verweist, bekommt er erneut eine Absage – es bestehe eine „Wohnsitzverpflichtung nach Registrierung und Zuweisung in eine Kommune kraft Gesetzes.“ Heißt: Weil Kovalchuk zuerst nahe Düsseldorf unterkam, ist ihr Umzug nach Auffassung der Stadt erst einmal ausgeschlossen.
Stadt Gelsenkirchen: Zuweisung durch die Bezirksregierung Arnsberg erfolgt perspektivisch
Wie kann das sein? Auf Nachfrage verweist Stadtsprecher Martin Schulmann auf ein aktuelles Schreiben des NRW-Flüchtlingsministeriums und hält fest: „In Fällen, in denen Personen privat oder dezentral kommunal untergebracht sind, erfolgt durch die Bezirksregierung Arnsberg perspektivisch eine bestätigende Zuweisung in die Kommune des Belegenheitsortes der Unterkunft.“ Das bedeutet: Auch wenn Frau Kovalchuk überhaupt nicht in eine Stadt zugewiesen wurde, sondern selbstständig nahe Düsseldorf untergekommen ist, ist sie offenbar an jenen Ort gebunden. Das hat sie allerdings jetzt nicht schriftlich vorliegen, sondern soll perspektivisch, also irgendwann mal in naher Zukunft, genau geregelt werden.
Trotzdem zählt es für die Stadt offenbar mehr als das, was Frau Kovalchuk bereits schwarz auf weiß hat, nämlich, dass sie ihren „Wohnort frei bestimmen kann“.
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Orientiert man sich an die Handhabung des Landes, dann „hätte die Bescheinigung der Familie Kovalchuk den Hinweis auf die Möglichkeit der freien Wohnsitzauflage nicht enthalten dürfen“, ist man sich bei der Stadt sicher. Anerkennen will sie die Stadt bislang also nicht.
Für Peter Janssen dagegen klingt all das nach „unverständlichen Konstrukten“, die zeigen, dass „man alles andere als pragmatisch und lösungsorientiert“ an die Situation der Flüchtlinge herangehe. Wobei dies offenbar nicht für jede Stadt gilt – dass der Umzug von Köln nach Bergheim oder Düsseldorf nach Herne gelingen kann, berichten andere Flüchtlingshelfer in Facebook-Gruppen, in denen sich Janssen austauscht.
Stadt Gelsenkirchen: Ungesteuerter Zuzug von Flüchtlingen würde uns belasten
Und Gelsenkirchen? Was können Flüchtlinge wie Frau Kovalchuk tun, die bereits in Deutschland wohnen, aber dann hier eine Wohnung gefunden haben? Ist es für so jemanden ausgeschlossen, umzuziehen?
„Ausgeschlossen ist es nicht“, sagt Martin Schulmann. „Anträge auf eine eventuelle Änderung oder Aufhebung der Wohnsitzzuweisung sind von in NRW lebenden Geflüchteten an die Bezirksregierung Arnsberg zu richten.“ Eine Garantie, dass ein solcher Antrag zum Erfolg führe, gebe es aber natürlich nicht, sagt der Stadtsprecher und ergänzt: „Wir bedauern jeden unglücklichen Einzelfall, aber ein ungesteuerter Zuzug würde eine Kommune wie Gelsenkirchen stark belasten. Wir brauchen eine Bremse.“ In den ersten Wochen des Flüchtlingszuzugs sei es wichtig gewesen, den Menschen in Not überhaupt ein Dach über den Kopf zur Verfügung zu stellen. Jetzt sei es wichtig, den Zuzug zu regeln.
„Den Ukrainern wird unglaublich viel zugemutet“
Für Janssen ist das aber kein Argument, sich im Falle von Familie Kovalchuk so quer zu stellen. Denn den besagten Antrag an die Bezirksregierung, die sich um die Verteilung von Flüchtlingen kümmert, hat die Familie mittlerweile gestellt und dort erneut bestätigt bekommen: „Einem Umzug steht aus Sicht der Bezirksregierung Arnsberg aktuell nichts entgegen."
Nun will es Janssen erneut beim Ausländeramt Gelsenkirchen versuchen – und hofft, dass der Ritt durch den Bürokratie-Dschungel am Ende doch zu einem guten Ende führt. „Es wird nicht nur unglaublich viel Energie in den Behörden verbraucht“, sagt er. „Es wird den Ukrainern auch unglaublich viel zugemutet.“
(* Der Name wurde geändert, weil die Betroffenen anonym bleiben möchten. Der echte Name der Familie ist der Redaktion bekannt.)