Gelsenkirchen. Frust bei Gelsenkirchens Wirten: Ihnen fehlt Personal, Betriebe laufen oft auf Sparflamme. Warum selbst Auto, Handy und Massage nicht ziehen.
Restaurants, Cafés und Kneipen füllen sich wieder. Gastronomen könnten jetzt ihre Lockdown-Einbußen aufholen. Wenn Sie denn ausreichend Personal finden würden. Hiesige Gastronomen berichten von akuten Personal-Engpässen. Das gelte sowohl für Voll- und Teilzeitkräfte als auch für Aushilfen auf geringfügiger Beschäftigungsbasis.
Die Corona-Pandemie hat dazu geführt, dass die Gastronomie viele Mitarbeiter verloren hat. Nicht wenige sind abgewandert in andere Branchen. Sie seien nach Angaben des Nürnberger Institutes für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit „in Testzentren, in der Logistik oder bei Lieferdiensten“ untergekommen.
Gelsenkirchener Gastwirt: Bewerber verlangte 4500 Euro netto im Monat
Wie groß die Not ist, davon berichtet Marcel Hofstätter. Der 33-Jährige betreibt die „Villa Stadtgarten“ im Süden Gelsenkirchens. Angesichts des seit Tagen anhaltenden, strahlend-schönen Frühlingswetters hätte der Gastwirt lieber heute als morgen die dazugehörige Außenterrasse und das Restaurant eröffnet. „Es meldet sich aber seit zwei Monaten so gut wie niemand“, sagt Hofstätter, der klassische Annoncen über das Arbeitsamt schaltet und auch Online-Plattformen wie Facebook, Instagram oder Indeed nutzt, um die Personallücken mit zwei Mitarbeitenden in Voll- oder Teilzeit aufzufüllen.
Das Kuriose dabei: Hofstätters Jobofferte geht „weit über das übliche Angebot hinaus“, und dennoch weckt das Job-Paket so gut wie kein Interesse. „Niemand will bei uns arbeiten“, wundert er sich. „Und das, obwohl wir einen Firmenwagen anbieten, ein Firmenhandy und sogar Physiotherapie und Freizeit-Ermäßigungen.“ Dazu kommen noch kostenlose Getränke während der Arbeit.
Der Gastronom kann sich die ausbleibende Nachfrage kaum erklären, immerhin, so sagt er, zahle man ordentliche Löhne. Diese lägen bei zwölf bis 17 Euro die Stunde, je nach Erfahrung und Qualifikation, und die Trinkgelder sind da noch nicht eingerechnet. Augenscheinlich, so der Wirt, sei der Fachkräftemangel so hoch, dass Jobsuchende sehr wählerisch sein könnten. Und das treibt seltsame Blüten: Hofstätter berichtet, dass eine Studentin als Gastro-Neuling einen Stundenlohn von 20 Euro verlangt habe, ein anderer Bewerber „ein Monatsgehalt von 4500 Euro – netto“. Der 34-Jährige bezeichnet das als „dreist und völlig utopisch“.
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Folgen: Ohne Kompensation durch zweites Lokal wäre Existenz bedroht
Die Folge: Bis auf Weiteres bleiben Außengastronomie und Restaurant der „Villa Stadtgarten“geschlossen, ein Koch und vier Aushilfen sind durch geschlossene Veranstaltungen schon so stark eingebunden, dass mehr nicht zu schaffen ist. In der Existenz bedroht ist Hofstätter dadurch nicht – die fehlenden Einnahmen kompensiert „zum Glück unser zweites Standbein, das Flugplatz-Café Borkenberge“ bei Münster. „Ansonsten“, so der 33-Jährige, „würde uns die Personalnot mangels Einnahmen in die Nähe der Existenznot rücken.“
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Lukas Günther, Vize-Chef der SPD-Fraktion in Gelsenkirchen ist ebenso besorgt: „Der Fachkräftemangel in der Gastronomie ist in der Tat ein großes Problem.“ Die Auswirkungen seien schon jetzt spürbar und würden sich mit Blick auf die beliebten Pop-up-Formate und Öffnung der Außengastronomie im Sommer zuspitzen. „Wenn erste Betriebe bereits Schwierigkeiten haben, ihren Regelbetrieb aufrechtzuerhalten, bedeutet das nichts Gutes“, so Günther weiter. Der SPD-Politiker war sich sicher, „dass durch die Anhebung des Mindestlohns auf zwölf Euro die Job-Attraktivität in der Gastro zunehmen wird.“
Buerscher „Dorfkrug“-Chef: Attraktivität steigern durch höhere Minijob-Freigrenze
Daran hat Kader Gül, Chef des buerschen „Dorfkruges“ und mit Christoph Klug der Initiator eines Stammtisches Gelsenkirchener Wirte, erhebliche Zweifel. Gül sucht ähnlich wie viele seiner Mitstreiter per Aushang seit Wochen nach vier bis sechs Mitarbeitern, die zum aktuell elfköpfigen Gastro-Team dazustoßen. Vor Corona waren es mal insgesamt 20 Kräfte, ein Teil hat sich beruflich umorientiert, eine frühere Kollegin etwa arbeitet „nunmehr in der Pflege“.
Auch Gül findet keinen neuen Mitarbeitenden. „Und das, obwohl wir schon über dem gültigen Tarif zahlen“, so der Gastronom. In NRW gilt seit Jahresbeginn ein Lohn von 9,82 Euro. Gül zahlt nach eigenen Angaben aber schon über zehn Euro pro Stunde. Dennoch sei das Interesse mehr als mau. „Das führt dazu, dass wir unsere Leistungen gar nicht voll anbieten können, weil uns schlichtweg die Leute dazu fehlen.“
Neben dem „Dorfkrug“ betreibt Gül mit seiner Frau Nazan noch den „Hotel & Gastropark Loemühle“ in Marl. Vier bis sechs Servicekräfte für das Restaurant, den Biergarten und den Poolbereich fehlen dort, gemeldet auf die Jobangebote hat sich bislang niemand.
Beschäftigtenzahlen im Gastronomie-Gewerbe auf Talfahrt
Nach Angaben von Thorsten Hellwig, Sprecher des Hotel- und Gaststättenverbandes NRW, haben zuletzt nach einer Umfrage „80 Prozent der Betriebe über einen Mangel an Personal geklagt“. Vor Corona habe es innerhalb der Branche ein massives Wachstum gegeben, die Pandemie und die Lockdowns haben zu einer Talfahrt bei den Beschäftigungszahlen geführt. Vor allem Aushilfen, sie erhielten kein Kurzarbeitergeld, kehrten der Branche den Rücken zu, weil sie auf das Einkommen angewiesen waren. Hellwig zufolge lag die Mitarbeiterzahl NRW-weit „Ende März 2019 bei 401.000. Ein Jahr später waren es 375.000 und Ende März 2021 nur noch 316.000“. Der Sprecher wies darauf hin, dass im letzten Winter viele Gäste trotz der Lockerungen vorsichtig und den Lokalen ferngeblieben waren. Das Hin und Her im Streit um Lockerungen und die Verunsicherung der Gäste beim Umgang mit der Pandemie habe die Branche „bei der Aufholjagd nach höheren Umsätzen“ stark behindert. Die Crux, nach Hellwig, bestehe zudem darin, dass viele Beschäftigte zwar gerne wieder in die Gastronomie zurückkehren wollten, aber die sichere Perspektive für einen sicheren Job wegen Corona immer wieder in Frage gestellt würde. Wie viele Mitarbeiter endgültig der Branche den Rücken gekehrt hätten, sei noch nicht zu sagen.
Gül findet, dass es nicht ausreicht, nur den Mindestlohn anzuheben. Denn das führe dazu, „dass Aushilfen wie etwa Minijobber zwar mehr verdienen, aber dafür weniger Stunden arbeiten und die Löcher im Schichtplan noch größer werden“. Die Anhebung der Minijob-Freigrenze müsste Gül zufolge nicht bei 520 Euro (ab 1. Oktober 2022) liegen, sondern deutlich höher, „bei über 700 Euro“, um die Attraktivität des Jobs zu erhöhen. In seinem Betrieb hat Gül übrigens schon seit längerem ein „Trinkgeldteilungssystem“ eingeführt. „So erhält jeder Mitarbeitende zwischen 450 bis 750 Euro im Monat steuerfrei dazu“. Ein Grund, so sagt er, warum seine Stamm-Belegschaft ihm die Treue hält.