Gelsenkirchen. Sahra Elmas hat mit patriarchischen Familienstrukturen gebrochen. Jetzt hilft sie mit ihrem Verein „Dandelion“ Frauen, sich selbst zu erfüllen.

Mit 23 Jahren durchbrach Sahra Elmas die Ketten, die ihre Familientradition ihr angelegt hatten. Sie studierte, ging ihren eigenen Weg, zeigte, dass auch Frauen mit ihrer Biographie – stammend aus der Osttürkei, konservativ-muslimisch erzogen, wenig Geld und Bildung – etwas in Deutschland aus sich machen können. Heute will die mittlerweile 29-Jährige auch andere Frauen motivieren, sich selbst zu entfalten, mit ihrem Verein „Dandelion“ (zu deutsch: Pusteblume).

Gelsenkirchenerin: „Ich konnte nie ein Kind sein“

Aber zunächst zurück in die Mitte der Neunziger. Sahra Elmas ist sechs Jahre alt, als sie mit ihrer Familie von der Türkei nach Bornheim nahe Bonn migriert. Ihr Vater bekommt hier einen Job auf dem Bau, ihre Mutter: Hausfrau, so wie es eben üblich ist in patriarchischen Familien wie ihrer. Weil ihre Eltern Analphabeten sind, müssen sich Sahra Elmas und ihre drei Jahre ältere Schwester früh um vieles kümmern – die Organisation des Familienlebens, die Papiere und Behördengänge. Und das ohne eigene große Deutschkenntnisse in einem so bürokratisch-verkopften Land.

„Ich habe darunter sehr gelitten“, sagt sie. „Ich musste schon in meinen jungen Jahren sehr viel erledigen. Ein Kind konnte ich nie sein.“

Sahra Elmas’ Verein heißt „Dandelion“. Seine Ziele: „Die Begegnungen zwischen Menschen unterschiedlicher Generationen, Anschauungen, Kulturen und Nationalitäten fördern.“
Sahra Elmas’ Verein heißt „Dandelion“. Seine Ziele: „Die Begegnungen zwischen Menschen unterschiedlicher Generationen, Anschauungen, Kulturen und Nationalitäten fördern.“ © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

Wunsch nach dem Studium führte fast zu Bruch mit der Familie

Dazu die Diskriminierung: Das Deutschland der Neunziger ist integrationspolitisch nicht auf dem Stand von heute. So etwas wie „Seiteneinsteiger-Klassen“ für Migranten-Familien ohne Deutschkenntnisse gibt es nicht. Die kleine Sahra kommt direkt in die dritte Klasse, ist die Exotin, wird gemobbt. „Und meine Deutschlehrerin sagte mir, als ich zwischen zwei Noten stand: Du bekommst die schlechtere Note, weil du sowieso nur eine Ausbildung machen wirst.“

Solche Worte demotivieren sie nicht. Im Gegenteil. Sie will es den anderen zeigen, schafft es auf die Gesamtschule, macht dort das Abitur. Und will dann auch noch studieren – was fast zum Bruch mit ihrer Familie führt.

„Als ich studieren wollte, löste das einen Riesen-Protest aus. Wie kann das sein, dass eine Frau auszieht und an die Universität geht? Ich war schließlich die Erste in der Familie, die aussteigen wollte. Aber was macht man, wenn dein Vater vor dir steht und sagt: Wenn du es wagst, aus dem Haus zu gehen, dann brauchst du auch nicht wiederkommen?“

Aus Skeptikern wurden stolze Eltern: „Meine Eltern prahlen heute mit mir“

Doch irgendwie kann Sahra Elmas ihre Eltern überzeugen. Auch wenn sie, so erzählt es die gläubige Muslima, enorme Angst davor haben, dass die europäische Kultur ihre Tochter aufsaugen wird. „Sie dachten: Wenn man sich in Europa in die Gesellschaft integriert, dann assimiliert man sich automatisch, dann vergisst man, wo man herkommt. Ich wollte zeigen, dass das nicht stimmt. Man gibt sich nicht auf, sondern kann sich entfalten.“

Wir taggen GElsen: Videos und Bilder aus Gelsenkirchen finden Sie auch auf unserem Instagram-Kanal GEtaggt. Oder besuchen Sie die WAZ Gelsenkirchen auf Facebook.

Und als sie dann den Abschluss in „Islamischen Studien“ an der Uni Frankfurt macht, der Löwenzahn zur Pusteblume wird, um woanders weiterzuwachsen, da kehrt sich die Perspektive ihrer Familie plötzlich um. „Dann haben meine Eltern geprahlt: Schaut nur, sie ist die Erste in unserer Familie, die studiert hat!“

Verein „Dandelion“: Neu-Gelsenkirchenerin will anderen Frauen neue Wege aufzeigen

Jetzt lebt die studierte Islamwissenschaftlerin und Mutter eines einjährigen Sohnes in Gelsenkirchen. Der Job ihres Mannes zog die Familie ins Ruhrgebiet. Hier möchte Sahra Elmas nun anderen Frauen mit einem ähnlichen Hintergrund wie ihrem neue Lebenswege aufzeigen. Mit Hilfe ihres neu gegründeten Vereins „Dandelion“ sollen vor allem muslimische, aber auch andere Frauen die Möglichkeit bekommen, sich noch mehr zu entfalten – indem sie lernen, Musikinstrumente zu spielen, indem sie gemeinsam Kunst anfertigen, gemeinsam Zeit verbringen.

20 Mitglieder hat „Dandelion“ mittlerweile, betreut werden um die 40 Frauen. „Räumlichkeiten haben wir noch nicht, aktuell findet alles bei uns zu Hause statt“, sagt die Neu-Bismarckerin. Aber jetzt, wo ihre Elternzeit bald endet und Corona-Lockerungen vielleicht wieder mehr Begegnungen ermöglichen könnten, will sie die Vereinsaktivitäten noch viel mehr ausbauen – eben möglichst viel Pusteblumen-Samen in der Stadt verteilen. „Denn ich brenne für diese Arbeit.“

Das Ziel des Vereins

„Dandelion“ hat sich nicht allein nur die Selbstermächtigung vor allem muslimischer Frauen auf die Fahne geschrieben. Der Verein setzt sich ganz allgemein das Ziel „Begegnungen zwischen Menschen unterschiedlichster Generationen, Anschauungen, Kulturen und Nationalitäten zu fördern und einen Integrationsbeitrag zu leisten.“

Sahra Elmas hat bereits in ihrer alten Heimat auf ähnliche Weise ehrenamtlich gearbeitet - neu ist für sie also nicht, was sie mit „Dandelion“ vorhat. Kontakt zum Verein: Instagram (dandelion_ev_) oder Mail (info@dandelion-ev.de)