Gelsenkirchen-Schalke. Deutschlands größter Mälzerei produziert pro Jahr 140.000 Tonnen Malz. So läuft der Betrieb nach der Havarie im Stadthafen Gelsenkirchen weiter.
Wäre das ein Film über Probleme mit der Verkehrsinfrastruktur, würde man meinen, die Regie hätte es mit der Dramaturgie der Ereignisse etwas übertrieben. Seit dem 17. Dezember ist Avangard Malz im Gelsenkirchener Stadthafen vom Lieferverkehr per Schiff abgeschnitten. Ein Frachter hatte damals die Pipeline-Brücke über den Kanalhafen mit seinem Kranausleger gerammt und beschädigt. In der größten deutschen Mälzerei muss seitdem der Getreide-Nachschub aufwendig koordiniert werden.
Avangard setzt dabei auf Nachbarschaftshilfe und Lkw-Pendelverkehr. Gelöscht werden die Frachter derzeit gut 500 Meter Luftlinie entfernt an der Mühle Rüningen. Von dort werden Gerste und Weizen seit Weihnachten zu Avangard gefahren. Vier Lastzüge samt Fahrern wurden dafür gechartert. Und dann das: Vergangenen Dienstag sollte ein Frachter 1400 Tonnen Nachschub für die Mälzerei liefern. Er hing fest. Ein Brückenschaden am Weser-Datteln-Kanal macht eine Umleitung erforderlich. Verzögerung: Gut ein Tag. Und Mehrkosten. Mal wieder.
In Gelsenkirchen werden etliche Spezialsorten und Farbmalze produziert
Gerste und Weizen vornehmlich aus Frankreich, Skandinavien und Niedersachsen verarbeitet Avangard, liefert die Basis für Pils und Altbier, Weizenbiere, Export, Lager, Pale Ale, Schwarzbier. Bei der Produktpalette, sagt Markus Schneider, Technischer Direktor für alle Avangard-Standorte und in Personalunion Werkleiter in Gelsenkirchen, sei der Betrieb im Hafen besonders breit aufgestellt. „Wir produzieren auch etliche Spezialsorten und Farbmalze in verschiedenen Farbabstufungen.“ Bei Bieren geht es nicht nur um den Geschmack, sondern auch um die Optik. Wenn das Lieblingsbier aus der Flasche oder dem Fass schäumt, soll es halt möglichst immer gleich schmecken – und aussehen.
Logistische Herausforderung nach der Frachter-Havarie
Nach der Havarie im Hafen, gesteht Markus Schneider, „gab es durch die Sperrung schon einen kleinen Schock“, verbunden mit der existenziellen Frage: „Wie können wir das logistisch hinbekommen?“ Nun, zunächst einmal, indem der Lagervorrat reduziert wurde. 20.000 Tonnen Kapazität bieten die Silos im Hafen. Doch die „Ernte 2021 war mies. Wir haben es nicht geschafft, das Lager wie in den Vorjahren zu füllen“, sagt der 47-Jährige. Gebunkert waren gerade einmal 8000 Tonnen. „Das reicht bei uns für etwa zwei Wochen. Bis es richtig lief mit dem Nachschub, sind die Lagermengen auf zehn Prozent runtergegangen.“ Weiteres Thema:Die rasante Reise der Küchen-Klassiker bei Müller’s Mühle
Gelsenkirchen ist größter Firmenstandort der Avangard-Gruppe
Mit einer Jahres-Produktion von 140.000 Tonnen Malz ist Gelsenkirchen der größte Avangard Standort im Verbund und auch Sitz der Verwaltung. „Wir schlagen hier über 170.000 Tonnen Gerste um. Pro Tag liegt unser Verbrauch bei 470 Tonnen Gerste“, so der Werkleiter. Im „Zulauf“ hatte Avangard zum Zeitpunkt der Havarie „schon fünf Frachter. Einer hat zehn Tage festgelegen, bis wir ihn entladen konnten“, sagt Schneider. Freie Kapazitäten und den Ladekran an der Mühle Rüningen kann Avangard nun vorübergehend nutzen. Es ist ein positiver Begleiteffekt der Notlage: Die Betriebe sind sich insgesamt näher gekommen. „Wir tauschen uns regelmäßig aus. Uns hilft das Wissen, dass wir hier ein gutes Backup haben, sollten wir noch mal Probleme kriegen.“ Lesen Sie auch:Großbaustelle Hafen – Wo Gelsenkirchener Firmen investieren
Betrieb im Gelsenkirchener Stadthafen läuft rund um die Uhr
An 365 Tagen im Jahr läuft die Mälzerei im Stadthafen rund um die Uhr im Schichtbetrieb. Rund sieben Tage dauert es, Gerste oder Weizen zu mälzen – für die Biere der Welt. Über die Waschtrommel, eine Art Riesenwaschmaschine fürs Getreide, wandert das Getreide in Keimkästen, dann in die Weiche, erneut in Keimkästen, schließlich landet es bei 85 bis 90 Grad in der Darre und letztlich, nun als Malzkorn, im Lager, „unserer Schatzkammer“, so Schneider. Zwölf bis 15 Prozent Wassergehalt hat so ein Korn, wenn es angeliefert wird, ehe es sich vollsaugt, um die Keimung anzuregen. Nach der Trocknung in der Darre liegt der Wassergehalt unter fünf Prozent. Geradezu knusprig-knackig schmeckt das Endprodukt, hat mehr oder minder Farbe bekommen. Und Röstaromen. Weiteres Thema: Müller’s Mühle in Gelsenkirchen weiß den Veggie-Boom zu nutzen
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Vom 25-Kilo-Sack bis zum 18-Tonnen-Inliner reicht die Packungsbandbreite für die Kundschaft. XXXL wie die größten Gebinde sind auch die Stationen davor: 74 Silozellen birgt der 68 Meter hohe Siloturm. Die Waschtrommel, in der die Gerste gereinigt wird, hat vier Meter Durchmesser und ein Gesamtgewicht von 80 Tonnen. Allein 40 Kubikmeter Wasser pro Stunde fließen hier durch, wenn die Körner vom Staub befreit werden und erstmals etwas Wasser aufnehmen. Avangard pumpt es aus zwei eigenen Brunnen in den Betrieb.
Jedes Becken hat 22 Meter Durchmesser und fasst 180 Tonnen Getreide
Auch die sechs Weichkeimkästen im Turm toppen alles, was man sich unter dem Begriff „Kästen“ üblicherweise vorstellt. Es sind runde Betonbecken, bestückt mit einem Riesenrührer. Die Wendemaschine schichtet die Gerste einmal alle acht Stunden komplett um, Ventilatoren belüften die Masse von unten. Jedes Becken hat 22 Meter Durchmesser, fasst 180 Tonnen Getreide, wird 1,1 Meter hoch mit Gerste oder Weizen befüllt. Die Körner quellen, nehmen Wasser auf. Von der Decke, von den Wänden tropft es im steten Fluss. Über den Anlagen steigt der Wasserdampf aus der Keimung, die weißen Wolken umwabern Dächer und die getreidegelbe Fassade des Siloturms, verflüchtigen sich schließlich über dem Hafenbecken.
Arbeiten an der Rohrbrücke im Becken des Industriehafens
Von hier oben ist der Blick auf den Kanal unverbaut und zu sehen, wo im Westhafen das (Transport)-Problem liegt. An der beschädigten Rohrbrücke haben Arbeitsschiffe im Hafenbecken festgemacht. Auf dem Wasser wird noch gearbeitet. Die provisorische Brücken-Tragekonstruktion wird derzeit mit massiven eingerammten Stahlrohren gesichert. Diese Dalben dienen als Anfahrtschutz, bekommen noch eine Steinschüttung. Bei Avangard geht man davon aus, dass die Zufahrt ab der ersten Februarwoche wieder frei sein wird. Weiteres Thema: Neue Halle, mehr Personal, neue Loks: Gelsen-Log rüstet auf
Der Bierabsatz in Deutschland sinkt. Das merken Mälzer wie Brauer. Erstere haben jedoch einen klaren Marktvorteil. Ihr Export wächst deutlich, das gleiche den sinkenden Inlandsanteil mehr als nur aus. Malz aus Gelsenkirchen ist international gefragt. „Wir liefern in nahezu jedes Land der Welt, zuletzt selbst auf die Seychellen, und nach Papua Neuguinea“, sagt Schneider. Wobei die weltweiten Folgen der Corona-Pandemie die Geschäfte und die Lieferketten seit Monaten massiv treffen. Der Warenverkehr ist gestört, Lieferzeiten für Verpackungsmaterial sind teils auf ein dreiviertel Jahr gestiegen, Transportkosten geradezu explodiert. Containerfracht, die früher für 3000 Euro von Asien nach Europa transportiert wurde, kostet aktuell 12- bis 13.000 Euro.
Die zentrale Lage Gelsenkirchens ist für den Technischen Direktor ideal
Kurze Lieferstrecken sieht Schneider zunehmend als Standortvorteil für die Wirtschaft. Avangard versuche daher, „so viel wie möglich rund um den Schornstein der jeweiligen Mälzerei zu beziehen“. Die Lage in Gelsenkirchen sei dafür geradezu optimal, findet Schneider. Nur der wichtigste Rohstoff, das Getreide, hat halt lange Anfahrtswege. Und manchmal auch störanfällige...
Avangard Malz ist auf dem Weg zur Klimaneutralität
CO2-Neutralität und die Verminderung des Kohlendioxid-Ausstoßes ist auch bei Avangard Malz ein großes Thema. Ziel sei es, die Klimabilanz deutlich zu verbessern, so Markus Schneider. Als Technischer Direktor beschäftigt ihn die entsprechende Umstrukturierung der Avangard-Standorte. Weiteres Thema:BP startet Umbau der Logistikdrehscheibe in Gelsenkirchen
Als Vorreiter für die angestrebte Klimaneutralität innerhalb des Unternehmens gilt die Mälzerei in Bremen. Mit Wärmepumpen, einem Biomassekraftwerk und einer Windenergieanlage soll die Öko-Bilanz dort verbessert werden.
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Auch für Gelsenkirchen werde die Transformation hin zur CO-Neutralität geplant. Wichtige Schritte wurden schon eingeleitet: „Wir kaufen unseren Strom für alle Betriebe komplett klimaneutral ein“, sagt Schneider. Auch der Wärmeverbund mit dem benachbarten Chemiestandort von Arsol Aromatics ist ein wesentlicher Baustein für mehr Klimaschutz.
Fernwärmeverbindung mit dem Chemiebetrieb Arsol Aromatics
Der Chemiebetrieb von Arsol Aromatics war schwer von der Havarie betroffen: Die Pipelineverbindung von der BP-Raffinerie Horst war unterbrochen, die Produktion musste gestoppt werden. Zum Jahreswechsel konnte das Werk wieder hochgefahren werden. Davon profitierte auch Avangard. Die Mälzerei wird von Arsol mit Fernwärme versorgt, rund 60 Prozent des Wärme-Energiebedarfs werden so gedeckt. Eine ideale Kombination unter Nachbarn. Schneider: „Wir brauchen für unsere Produktion 110 Grad heißes Wasser“, mit 60 Grad fließt es durch die Rohre zurück. Genauso heiß, wie es wiederum für die Arsol-Anlagen ideal ist. „Das ist perfekt für beide Seiten“, findet Schneider.
Auch auf dem Firmenparkplatz und besonders vor der Hauptverwaltung der Mälzerei wird der Wandel sichtbar. Für die wachsende E-Fahrzeugflotte der Beschäftigten wurden sieben Stellplätze mit einem Stromanschluss ausgestattet.
Unternehmens-Gründer ist ein russischer Bank-Eigentümer
Mit der Insolvenz von Weissheimer Malz 2006 beginnt die Geschichte von Avangard. Kirill Minovalov, 50, Eigentümer der Bank Avangard und dreier Mälzereien in Russland, übernahm die Betriebe aus der Insolvenzmasse. Standorte sind Gelsenkirchen, Bremen, Koblenz und Lechfeld.Die Mälzerei im Stadthafen wurde 1968-1972 gebaut und 2009 modernisiert. Bei einer Gesamtkapazität von rund 380.000 Tonnen ist Gelsenkirchen mit 140.000 Tonnen der größte Avangard-Standort und gilt als führende deutsche Mälzerei. An der Hafenstraße ist auch die Verwaltung. An Malz-Typen werden Pilsener, Karamel, Münchener, Wiener und Pale Ale Malz sowie Farbmalze in verschiedenen Farbabstufungen produziert. In der Coronazeit, stellen die Mälzer fest, stieg die Zahl der Hobby-Bierbrauer – die größere Abnahme an 25-Kilo-Gebinden lässt diese Vermutung zu. Avangard hat bundesweit 160 Mitarbeiter, in Gelsenkirchen sind es – inklusive Verwaltung – rund 60 Kräfte, darunter Fachpersonal wie Mälzer und Brauer. Avangard bildet regelmäßig drei bis vier junge Leute für den eigenen Nachwuchs aus – als Fachkräfte für Lebensmitteltechnik.
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