Gelsenkirchen/Essen. Wilfried Fesselmann aus Gelsenkirchen wurde als Kind von einem Kaplan missbraucht. Früherer Papst Benedikt soll von Vorgeschichte gewusst haben.
Ein Eingeständnis, aufrichtige Reue, ein Gespräch mit seinem Peiniger, die ganze Wahrheit: Das ist, was Wilfried Fesselmann mehr will als alles andere im Leben. Das ist, wofür der Gelsenkirchener zeit seines Lebens gekämpft hat. Hoffnung, dass ihm bald ein wenig Seelenfrieden zuteilwird, schöpft der 53-Jährige aus der für Mitte Januar angekündigten Veröffentlichung eines Gutachtens zum Umgang des Erzbistums München mit Missbrauchsvorwürfen.
Als Elfjähriger wurde Wilfried Fesselmann in Essen vom jungen Kaplan Peter H. aus Gelsenkirchen zu sexuellen Handlungen gezwungen. „Möglich war das nur, weil das Bistum ihn von Bottrop nach Rüttenscheid versetzt hatte, obwohl er als Kinderschänder aufgefallen war“, klagt Fesselmann an. Und auch in den Jahren danach sei der Kaplan mithilfe von Versetzungen innerhalb der katholischen Kirche gedeckt worden, sagt Fesselmann. Einer, der zum Ring der Mitwisser und Vertuscher gehören soll, ist der emeritierte Papst Benedikt XVI, Joseph Ratzinger.
Sexueller Missbrauch: Dekret belastet früheren Papst Ratzinger
Ein internes Dekret der katholischen Kirche belastet Ratzinger nach einem Bericht der Wochenzeitung „Die Zeit“. Ebenso wie Wilfried Fesselmann seit mehr als zehn Jahren schon anklagt, stehe in dem Bericht, dass der spätere Papst um die Missbrauchsvorwürfe gegen den Gelsenkirchener Priester H. gewusst haben soll, als er diesen 1980 von Essen in das Erzbistum München und Freising holte.
Benedikts Privatsekretär Georg Gänswein bestritt dies in einer Stellungnahme. Ratzinger habe von der Vorgeschichte des Priesters zu diesem Zeitpunkt keine Kenntnis gehabt, behauptet Gänswein.
Das Gutachten, das nun vorgestellt werden soll, untersucht die Jahre 1945 bis 2019 und umfasst damit auch die Amtszeit von Ratzinger, der das Erzbistum von 1977 bis 1982 führte, bevor ihn Papst Johannes Paul II. nach Rom berief.
Kaplan soll Gelsenkirchener zum Oralsex gezwungen haben
Dass das Verschweigen von sexuellem Missbrauch das Leid der Opfer noch vergrößert, hat Fesselmann genau so erlebt. „Es fühlt sich an, als würden wir nicht ernst genommen – und auch nicht das, was die Täter mit uns gemacht haben“, sagt er.
Was er selbst in der Nacht zum 14. Juli 1979 erlebte, es lässt ihn auch nach mehr als 40 Jahren nicht los. Der Kaplan hatte ihn den Schilderungen nach zu einem Fernsehabend mit anschließender Übernachtung eingeladen. Allein mit dem alkoholisierten Geistlichen in dessen Wohnung, habe dieser erst die Türen abgeschlossen, ihm „so etwas wie Baccardi Cola“ zu trinken gegeben und ihn dann zum Oralsex gezwungen.
Als der Junge am nächsten Morgen nach Hause zurückkehrte, habe er immer wieder versucht, seiner Mutter davon zu erzählen. „Aber sie wollte mir nicht glauben.“ Erst ein Schulfreund, dem er davon berichtete, brachte Bewegung in die Sache. Der erzählte seinen Eltern davon, die benachrichtigten Fesselmanns Mutter. Es stellte sich heraus, dass der Kaplan mindestens zwei weitere Jungen missbraucht hatte.
Weil jedoch die drei Elternpaare mit Rücksicht auf ihre Kinder keine Strafanzeige stellten, verzichtete auch das Bistum auf eine Anzeige bei der Staatsanwaltschaft. Den Eltern wurde versichert, dass der Geistliche vom Bistum sofort aus dem Dienst der Pfarrei herausgenommen werde.
Missbrauch von Kindern ging weiter
Tatsächlich wurde Peter H. 1980 ans Erzbistum München-Freising abgegeben. „Dort wusste man von seinen Taten“, ist sich Fesselmann sicher. „Er bekam auch in den Folgejahren in verschiedenen Gemeinden in Bayern die Gelegenheit, Kinder zu missbrauchen“, weiß der 52-Jährige, dessen Recherchen einen dicken Ordner füllen. Selbst eine 18-monatige Bewährungsstrafe wegen sexueller Übergriffe gegen neun Jungen, 1986 ausgesetzt auf fünf Jahre, stoppte den Mann nicht – auch weil das Erzbistum ihn nach wie vor mit Kindern und Jugendlichen arbeiten ließ.
Bistumssprecher Ulrich Lota bezeichnete es 2020 als „Riesen-Fehler“, dass der vorbestrafte pädophile Geistliche immer wieder in der Kinder- und Jugendarbeit eingesetzt wurde. Die Taten des heute 73-Jährigen sind mittlerweile verjährt.
Fesselmann selbst würde gerne endlich seinen Seelenfrieden finden. Aber genau das verwehrt ihm der Täter. Dieser kehrte im Mai 2020 in seine Essener Heimatdiözese zurück, wo er 1973 zum Priester geweiht worden war – und die damit nach wie vor für ihn zuständig ist. „Ich würde ihn gerne mal treffen und fragen, warum er das damals getan hat.“ Von ihm zu hören, „dass er endlich die Schuld für alle Fälle anerkennt“, würde es ihm leichter machen, damit zu leben. Allein: „Der Betroffene lehnt ein Gespräch ab.“
Strafanzeige gegen Papst Ratzinger
Die Frage nach der Rolle Ratzingers im Missbrauchsfall Fesselmann wurde vor mehr als zehn Jahren bereits einmal gestellt, bisher aber nicht zufriedenstellend beantwortet. Nach einem Bericht in der „New York Times“ über den Missbrauch an Wilfried Fesselmann meldeten sich amerikanische Anwälte beim Gelsenkirchener und boten ihm ihre Hilfe an. Zusammen mit anderen Missbrauchsopfern in den Staaten reichte Fesselmann vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag im September 2011 eine 59 Seiten lange „Strafanzeige gegen Dr. Joseph Ratzinger, Papst der röm.-kath. Kirche wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gem. Art.7 IStGH-Statut“ ein.
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„Es war bewegend, in der siebten Etage des Gerichts den amtierenden Papst zu verklagen. Ein Ort, an dem schon andere mächtige Politiker und Länderchefs wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt wurden“, erinnert sich Fesselmann. Zu einem Verfahren kam es nie.
Klarheit um Verantwortung und Umgang des Erzbistums München und Freising mit dem Fall Peter H. könnte aber nun das Münchener Gutachten bringen, hofft Fesselmann. Prof. Bernhard Anuth von der Universität Tübingen konnte das Kirchendekret bereits einsehen. Das bisher geheime Dokument ist für den Kirchenrechtler „kirchenpolitischer Sprengstoff, weil hier dokumentiert ist, dass die Kirche sich nicht um die Betroffenen sexuellen Missbrauchs, also nicht um die Kinder und Jugendlichen gekümmert hat, sondern das Interesse dem Schutz des Rufes der Kirche und dem Kleriker-Täter galt.“ Der damalige Erzbischof Ratzinger – so ist sich Anuth sicher – habe gegen Kirchenrecht verstoßen.