Gelsenkirchen. Wenn Familien zum ersten Mal Weihnachten erleben: Ein Besuch in der Werkstatt der Flüchtlingsunterkunft Erle. Ein Ort, wo die Wünsche groß sind.

Mursa bewegt ihre Hand über den mehlgepuderten Tisch, als würde sie ein Lenkrad bewegen. „So hat Mädchen an der Schule gemacht, in große Auto.“ Ein Bild, das der neunjährigen Afghanin eher unvertraut ist. Und das sie nicht mehr vergessen will. Nun hofft sie, dass sie der Weihnachtsmann in ihren eigenen SUV befördert. „Nicht kleines Auto, ein großes Auto.“ Das steht auf ihrem Wunschzettel, ihrem allerersten.

Adventswerkstatt in Gelsenkirchener Flüchtlingsunterkunft „Kinder tauchen in andere Welt ein“

Denn Weihnachten kennen die Kinder, die meist erst seit kurzer Zeit hier in den vollbelegten Flüchtlingsunterkünften an der Adenauerallee im Berger Feld leben, aus ihren Heimatländern in der Regel nicht. Die meisten kommen wie Mursa aus muslimischen Staaten wie Afghanistan oder Syrien, vereinzelt aus Ländern wie Somalia oder dem Irak, aber auch Russland oder Venezuela.

Inga Clever (li.) und Susanne Schrade (re.) haben die Kreativwerkstatt „Sonnenblume“ in den Flüchtlingsunterkünften in Erle ins Leben gerufen. Die beiden sind für die „Task Force Flüchtlingshilfe“ tätig.
Inga Clever (li.) und Susanne Schrade (re.) haben die Kreativwerkstatt „Sonnenblume“ in den Flüchtlingsunterkünften in Erle ins Leben gerufen. Die beiden sind für die „Task Force Flüchtlingshilfe“ tätig. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Dass sie hier, in der Werkstatt „Sonnenblume“ neben den vollbelegten Vario-Häusern in Nachbarschaft des THW, täglich mit Mitarbeitern der „Task Force Flüchtlingshilfe“ gärtnern, sägen, schnitzen – und in diesen Tagen natürlich Kekse backen und Papierengel basteln – ist für viele hier der Hauptzeitvertreib am Nachmittag. „Die Kinder bekommen hier die Möglichkeit, in eine andere Welt einzutauchen“, sagt Susanne Schrade, die die Kreativwerkstatt 2019 ins Leben gerufen hat und hier neben ihrem Wirken als Künstlerin beruflich tätig ist.

Flüchtlingskinder versuchen, sich irgendwie auf Deutsch zu verständigen

Wer die „Sonnenblume“ erreichen will, muss erst am Security-Dienst im Pförtnerhäuschen vorbei. Die Flüchtlingssiedlung ist abgeschottet, das Gelände verlässt das „Task Force“-Team mit den Kindern nicht. Umso wichtiger ist das, was in der kunterbunten Werkstatt passiert.

Heute werden Plätzchen gebacken. In der Kreativwerkstatt „Sonnenblume
Heute werden Plätzchen gebacken. In der Kreativwerkstatt „Sonnenblume" in Gelsenkirchen wurde aber auch schon Weihnachtsdekoration für den Weihnachtsmarkt gebastelt. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

„Weil hier so viele unterschiedliche Sprachen gesprochen werden, versuchen sich die Kinder auf Deutsch zu unterhalten“, sagt Inga Clever, die die „Sonnenblume“ mitgegründet hat. Lange spricht die Sprache hier noch keiner, denn wer in der Siedlung lebt, hat noch keinen geprüften Asylstatus, kam meist erst vor kurzer Zeit. Und so versucht man sich hier irgendwie mit neuem Vokabular zu verständigen – und dabei tannenförmige Plätzchen zu backen, eben Weihnachten kennenzulernen.

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Ein Kind klaut die Zuckerstreusel und Smarties von dem Gebäck und schiebt sie sich in den Mund. Die Zähne sehen ungesund aus, Karies hat sich überall ausgebreitet. Was macht man in so einem Moment? Direkt den süßen Weihnachtsspaß verderben? „Wegschauen sollte man da nicht“, sagt Susanne Schrade. „Wenn man so etwas wahrnimmt, sagt man es der Mutter und legt ihr nahe, medizinische Versorgung über den Behandlungsschein in Anspruch zu nehmen.“

Draußen wird auch gehämmert: In der Kreativwerkstatt „Sonnenblume“ können sich die Flüchtlingskinder ausprobieren.
Draußen wird auch gehämmert: In der Kreativwerkstatt „Sonnenblume“ können sich die Flüchtlingskinder ausprobieren. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Offen für Weihnachten sei hier eigentlich jeder, sagt Schrade. Zu unangenehmen kulturellen Zusammenstößen komme es, trotz der Vielfalt der hier lebenden Nationen, in der Regel nicht – egal, welches Fest gefeiert wird. Aber es gibt Ausnahmen. „Als wir vor einigen Wochen Halloween gefeiert haben, dachte eine Familie, die den Zeugen Jehovas angehört, dass hier der Teufel umhergeht.“


Während weitere Plätzchen produziert werden, laufen Weihnachtsklassiker auf der tragbaren Musikanlage. Die wenigen anwesenden Mütter rollen unaufgeregt den Teig und streichen, in Winterjacken eingemummelt, still die Glasur auf die Kekse. Es hat fast den Anschein, als hätte die Weihnachtsbäckerei therapeutische Wirkung auf sie. Was die Menschen, die hier sitzen, wirklich gezwungen hat, ihre Heimatländer zu verlassen, wissen Schrade und Clever aber in der Regel nicht. Für ihre Aufgabe, deuten sie an, spiele es keine große Rolle.

Weihnachtswünsche der Flüchtlingskinder: „Eine echte weiße Katze“

Die Kekse: natürlich lecker. Und die Weihnachtsmusik? Der somalische Junge Fahid wackelt mit der flachen Hand. Geht so also. Aber das Wichtigste und Beste an Weihnachten sind ohnehin die Wünsche und Geschenke. Und die unterscheiden sich bei den geflüchteten Kindern nicht von den Wünschen deutscher Kinder: „Eine Playstation!“, sagt der zwölfjährige Fahid, „eine echte weiße Katze“ hat die neunjährige Rosin sogar gleich auf zwei Wunschzetteln geschrieben. „Ich würde alles machen für die. Und ich lasse sie nicht rausgehen.“

Mursa (li.) wünscht sich ein „großes Auto“, Rosin (re.) eine „weiße Katze“. Der Weihnachtsbaum wurde vergangenes Jahr von Flüchtlingen gebastelt. Aber inzwischen lebt hier keine Familie mehr, die schon 2020 da war.
Mursa (li.) wünscht sich ein „großes Auto“, Rosin (re.) eine „weiße Katze“. Der Weihnachtsbaum wurde vergangenes Jahr von Flüchtlingen gebastelt. Aber inzwischen lebt hier keine Familie mehr, die schon 2020 da war. © WAZ | Gordon Wüllner-Adomako

Dass die wenigsten Wünsche am Ende erfüllt werden können, darüber wird hier natürlich geschwiegen. Die Kinder dürfen groß träumen. Denn die Realität kann die Familien hier schnell genug einholen. Manchmal, erzähl Susanne Schrade, könne es sein, dass eine Familie am nächsten Tag nicht mehr in der Werkstatt auftaucht, weil sie plötzlich das Land verlassen musste. Im letzten Jahr habe sie noch mit ganz anderen Menschen für Weihnachten gewerkelt. „Es ist ein Kommen und Gehen, immer wieder neue Gesichter.“

Hilfe für die Ukraine

Direkt neben der Kreativwerkstatt sind aktuell 200 Tische und 250 Stühle gelagert, für die man in der Sternschule keine Verwendung mehr hat. Die „Task Force Flüchtlingshilfe“ will sie im Februar in die Ukraine bringen und im dortigen Krementschuk eine Grundschule ausstatten.

Für Jürgen Hansen, Gründer der „Task Force“, wäre es nicht die erste Lieferung. Vor fast einem Jahr fuhr er selbst eine Lkw-Ladung Waschmaschinen und weitere Hilfsgüter in die Ukraine.

Eine gut gelaunte Mutter aus Venezuela, der man ihr Schicksal beim Plätzchenbacken keine Sekunde anmerkt, stehe eigentlich kurz vor der Rückführung, erzählt Inga Clever. „Aber jetzt kann sie doch noch über Weihnachten bleiben.“ Bis zu der Ausreise, so Clever, versuche man ihr das Gefühl zu geben, nicht verloren zu sein, „sich zu Hause zu fühlen, denn das kann man bei uns.“