Gelsenkirchen. Vier Bürger klagen gegen die Erweiterung der Gelsenkirchener Deponie – und damit gegen die Bezirksregierung. Was sie antreibt.

Anwohner der Eichkampsiedlung in Gelsenkirchen haben den Kampf vor Gericht gegen die genehmigte Erweiterung der Bauschutt- und Giftmülldeponie Emscherbruch aufgenommen. Sie vergleichen ihre Gegenwehr mit dem „Kampf David gegen Goliath“, vier Bürger gegen mächtige Gegner: die Bezirksregierung Münster, der Betreiber AGR und Regionalverband Ruhrgebiet.

Vier Gelsenkirchener im Kampf gegen Behörde, Deponiebetreiber und Kommunalverband

Die Bezirksregierung Münster ist die Genehmigungs- und Aufsichtsbehörde für die Deponie, die Abfallentsorgungs-Gesellschaft Ruhrgebiet (Jahresumsatz nach eigenen Angaben: circa 200 Millionen Euro) ist die Betreiberin der Lagerstätte, der Regionalverband Ruhr der Kommunalverband, der für elf angeschlossene Städte und vier Kreise (siehe Info-Box) unter anderem die Abfallentsorgung plant und organisiert. Die AGR ist eine 100-prozentige Tochter des RVR.

Elf Städte, vier Kreise und fünf Millionen Menschen

Der Regionalverband Ruhr (RVR) mit Sitz in Essen ist eine Körperschaft des Öffentlichen Rechts. Zum Verbandsgebiet zählen die kreisfreien Städte Bochum, Bottrop, Essen, Dortmund, Duisburg, Gelsenkirchen, Hagen, Hamm, Herne, Mülheim an der Ruhr, Oberhausen, und die Kreise Recklinghausen, Wesel, Unna sowie der Ennepe-Ruhr-Kreis mit insgesamt rund 5,1 Millionen Einwohnern.

Der RVR wird durch eine Umlage seiner Mitglieder finanziert und bei Projekten durch Fördermittel von Land, Bund und EU unterstützt.

Auf der Deponie sollen verschiedene Abfälle gelagert werden, eingeteilt in die Klassen DK I, II und III. Das neu zu schaffende Volumen für DK I soll 1,2 Millionen Kubikmeter betragen, der neue Ablagerungsbereich für DK II 1,9 Millionen Kubikmeter aufnehmen und der Bereich für DK III 1,5 Millionen Kubikmeter fassen. Letztere umfasst gefährliche Abfälle, darunter befinden sich auch giftige Stoffe.

Das Oberverwaltungsgericht Münster muss jetzt darüber entscheiden, ob die Zentraldeponie Emscherbruch an der Stadtgrenze von Gelsenkirchen und Herne nach mehr als 50 Jahren den Betrieb einstellt. Proteste gegen die mehrfach genehmigte Fortführung des Betriebes sind in der Vergangenheit wirkungslos verpufft.

Die Gelsenkirchener Albert Wübbena, Fabian Gärtner, Anja Hollerer und Marc Bruckmann haben deshalb jetzt über eine Kanzlei Klage gegen die Erweiterung der Bauschutt- und Giftmülldeponie beim Oberverwaltungsgericht in Münster eingereicht. Sie pochen auf eine EU-Verordnung, wonach Deponien ohne vollständige Abdichtung im Untergrund längst geschlossen werden müssen. Ansonsten würde der riesige Müllberg bis Anfang des nächsten Jahrzehnts um weitere 20 Meter und weitere 4,6 Millionen Kubikmeter Abfall anwachsen – direkt vor ihren schmucken Häusern. Das Problem: Die Halde steht laut AGR kurz vor der Kapazitätsgrenze, weitere Lagerplätze Mangelware.

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Rund 3,5 Hektar Wald fielen der Säge zum Opfer, um weitere Lagerkapazitäten für die Zentraldeponie Emscherbruch zu schaffen. Der Boden wurde mit Planen und Schüttgut abgedeckt. Hier soll später Abfall landen. Die Bewohner sorgen sich, dass unter anderem mit giftigen Stoffen belastetes Wasser die Gesundheit der Menschen gefährdet.
Rund 3,5 Hektar Wald fielen der Säge zum Opfer, um weitere Lagerkapazitäten für die Zentraldeponie Emscherbruch zu schaffen. Der Boden wurde mit Planen und Schüttgut abgedeckt. Hier soll später Abfall landen. Die Bewohner sorgen sich, dass unter anderem mit giftigen Stoffen belastetes Wasser die Gesundheit der Menschen gefährdet. © FUNKE Foto Services | Frank Oppitz

„Wir kämpfen bis zum Ende“, sagen die Paare Sabrina und Fabian Gärtner sowie Anja Hollerer und Marc Bruckmann. 2003 respektive 2010 haben die Nachbarn wie viele andere ein Einfamilienhaus im Eichkamp gekauft und jede Menge Geld in Umbau und Modernisierung gesteckt. Damals haben sie sich noch auf die Versicherung der Verkäufer verlassen, dass die Deponie spätestens 2008 stillgelegt und ähnlich wie die nahe Halde Hoheward zu einer Freizeit- und Naherholungsstätte umfunktioniert werde – mit Strahlkraft weit über die Region hinaus. Doch statt Radler und Gleitschirmflieger sehen und „hören sie nur knatternde Lkw und Bulldozer“.

Gelsenkirchener Deponie-Anwohner: Angst um Gesundheit der Kinder wegen giftigen Abfalls

Heute, so sagen es Sabrina Gärtner und Anja Hollerer, treiben die Mutter und die Krankenschwester „die Angst um die eigene und die Gesundheit ihrer Kinder um“. Mädchen und Jungen, die im Schlagschatten der Deponie wie viele andere Kinder in der an Familien reichen Siedlung aufwachsen. „Die größte Bauschutt- und Giftmülldeponie mitten im Ruhrgebiet“ ist für sie ein unhaltbarer Zustand.

Immerhin landen auch die hochumstrittenen Reste von Ölpellets aus Raffinerien auf der Deponie, ihre Inhaltsstoffe sind krebserregend. Parallel zur Klage setzten die Gelsenkirchener auf das von den Städten beschlossene und beantragte Bio-Monitoring, doch ob und wann es kommt, sei offen. „Da gab es von behördlicher Seite noch keine Angaben.“

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Gelsenkirchener rechnen mit der Verwaltung ab: „Erbärmliches Schauspiel“

Als „erbärmliches Schauspiel“ bezeichnen es Immobilien-Kaufmann Fabian Gärtner und Lehrer Marc Bruckmann, dass Gelsenkirchen und Herne sich „hinter vorgeschobenen verwaltungsrechtlichen Hürden verstecken“ und nicht selbst gegen die Deponie-Erweiterung klagen. Ihnen zufolge böte allein der Umstand, dass sich „das Landschaftsbild maßgeblich verändert durch einen noch größeren Müllberg“, einen Ansatzpunkt für eine kommunale Klage.

Die Rückseite der Bauschutt- und Giftmülldeponie an der Stadtgrenze von Gelsenkirchen und Herne: Die Zentraldeponie Emscherbruch soll laut Behördenbeschluss erweitert werden, 4,6 Millionen Kubikmeter Müll, darunter giftige Abfall, soll dort gelagert werden. Dagegen haben Anwohner der Eichkampsiedlung im Stadtteil Resse vor dem Oberverwaltungsgericht geklagt.
Die Rückseite der Bauschutt- und Giftmülldeponie an der Stadtgrenze von Gelsenkirchen und Herne: Die Zentraldeponie Emscherbruch soll laut Behördenbeschluss erweitert werden, 4,6 Millionen Kubikmeter Müll, darunter giftige Abfall, soll dort gelagert werden. Dagegen haben Anwohner der Eichkampsiedlung im Stadtteil Resse vor dem Oberverwaltungsgericht geklagt. © FUNKE Foto Services | Foto: Ingo Otto

Anwohner der Gelsenkirchener Eichkampsiedlung: Wertverlust von 50.000-100.000 Euro

Die beiden Paare fürchten auch um den Wertverlust ihrer Immobilien durch den fortlaufenden Deponiebetrieb. Summen von 50.000 bis 100.000 Euro stünden da durchaus im Raum. Geld, das sich selbst „bei einem frühen Verkauf in diesen Tagen und Wochen nicht mehr reinholen lässt“. Und das fehlt, um anderswo eigene vier Wände zu beziehen, weil Käufer über die Deponie unterrichtet werden müssen und entsprechend den Wert der Häuser stark nach unten korrigieren.

Deshalb hoffen sie auf viele Mitstreiter, die nach der Verwaltungsklage noch Zivilklagen folgen lassen. Um diese Klagen vorzubereiten, sollen möglichst viele Betroffene zur Belastung durch die Deponie Beweise sammeln, die Sachverständige und Experten der Kanzlei dann schön während des Verwaltungsprozesses auswerten. „Hat nur eine dieser Zivilklagen Erfolg“, sagt Rechtsanwalt Daniel Kehlmann von der gleichnamigen Kanzlei, so würde das die Gegenseite empfindlich treffen, weil so der (Gerichts-)Weg für alle anderen Betroffenen bereitet wäre.

Anwaltsvorwurf: Bezirksregierung Münster verzögert die Herausgabe der Deponie-Akten

Wie schwer und zäh der Kampf wird, zeigt der Streit um Akteneinsicht (20 D 377/21.AK). Rechtsanwalt Daniel Kuhlmann zufolge hat die Bezirksregierung Münster „die mehr als 1000 Seiten umfassenden Akten“ zu Erweiterung der Deponie seit Klageeinreichung am 17. November immer noch nicht übersandt. „Ich finde es bemerkenswert, dass eine dem Rechtsstaat und Transparenz verpflichtete Behörde den Prozess durch diese Art der Verzögerung derart negativ beeinflusst“, sagte Kuhlmann. Immerhin verbleiben bis zur Einreichung einer dezidierten Klagebegründung nur zehn Wochen, die Frist läuft am 26. Januar aus.

Die Behörde wollte zu dem Vorwurf keine Stellung nehmen und Fragen zum Versand der Unterlagen beantworten. „Zu laufenden Verfahren erteilen wir grundsätzlich keine Auskunft“, sagte ein Sprecher knapp und verwies auf das zuständige Oberverwaltungsgericht. Auch dessen Sprecherin konnte zur Aufklärung wenig beitragen. „Die gestellten Fragen betreffen Einzelheiten des Verfahrensablaufs“, die nicht beantwortet werden könnten, so die OVG-Sprecherin.